Ernst „Ezi“ Willimowski
Der doppelte Ernst
Die Wertschätzung kam aus berufenem Munde, von Fritz Walter: „ Der Ernst hat mehr Tore gemacht, als er Chancen hatte“. Der Pole Ernest Wilimowski schrieb WM-Geschichte. Er erzielte als erster Spieler vier Tore in einem WM-Spiel. Bei der WM in Frankreich 1938, am 5. Juni 1938 im Stade Meinau in Straßburg beim Achtelfinale Brasilien gegen Polen, das 6:5 n.V. endete.Und holte noch einen Elfer raus, den nicht er, sondern Fryderyk Scherfke, sein Sturmkollege, verwandelte. Ernest Wilimowskis Tor-Rekord hielt über ein halbes Jahrhundert. Erst 1994 bei der WM in den USA übertraf ihn der Russe Oleg Salenko im Spiel Russland gegen Kamerun mit fünf Toren.
Nach dem Spiel gegen die Brasilianer gab es einen langen Abend für Ernest im engen Straßengewirr der Straßburger Altstadt. Zum ersten Mal hörte er Sambaklänge. Einige brasilianische Zuschauer hatten ihn erkannt und schleppten ihn mit in das Lokal, in dem die brasilianische Mannschaft das Erreichen des Viertelfinales feierte. Alkoholtechnisch konnte Ernest Vollgas geben. Er war eingeladen, konnte seine knappen Devisenreserven schonen und hatte kein Spiel mehr vor sich wie die Brasilianer. Dann kam erneut eine Sternstunde wie ein paar Stunden vorher im Stadion. Ernest präsentierte das Ergebnis des heutigen Spiels auf eindrucksvolle Art, ohne der brasilianischen Sprache mächtig zu sein. Er hatte die Socken ausgezogen und zeigte visuell das Endergebnis des am Nachmittag zu Ende gegangenen Spiels. Zunächst legte er den rechten Fuß mit seinen fünf Zehen auf den Tisch: „Polska“ deutete er an. Dann hob er den linken Fuß auf den Tisch. Ernest hatte da sechs Zehen. Das kommt einmal vor unter 2 Millionen Menschen. Mit einem prustenden „Brazil“ deutete er auf das Endergebnis hin, das nun auf dem Tisch lag. 5:6. Obwohl die brasilianischen Fans keinerlei französischen Wortschatz mitgebracht hatten, das kapierten sie ohne Dolmetscher. Es war der Beginn der Gebärdensprache. Alle Fans tanzten nun Samba –ohne Frauen- und strapazierten die Champagner- und Weinvorräte des Lokals. Caipirinha kannten die Franzosen damals noch nicht.
Auf der Tribüne in Straßburg saß übrigens ein gewisser Sepp Herberger und staunte über die Qualität des polnischen Mittelstürmers mit seinen Henkelohren und dem brandroten Haar, diesem Bewegungswunder mit sechs Zehen am linken Fuß, was Herberger natürlich nicht wusste. Dann hätte es in seinem Notizbuch gestanden. „Den könnte die großdeutsche National-Mannschaft gut gebrauchen“, dachte der neue Bundestrainer. Seine Mannschaft war gerade sang-und klanglos in der Vorrunde gegen die Schweiz ausgeschieden. Eigentlich nicht seine Schuld. Kurz nach dem Anschluss Österreichs im März 1938 musste er auf „ Führerbefehl“ mindestens fünf vormalige österreichische Nationalspieler in seiner deutschen Nationalmannschaft integrieren. Und die war bereits gut eingespielt. (Siehe Porträt „Breslau-Elf“). Das war in der Kürze der Vorbereitungs -Zeit von zwei Monaten bis zur WM aufgrund sehr unterschiedlicher Spielstile kaum möglich. Wiener Walzer und preußische Marschmusik kombinieren? Das wäre selbst Beethoven nicht gelungen.
Aber im Juni 1941, drei Jahre nach Wilimowskis großartigem Auftritt in Straßburg, war es soweit. Herberger konnte den ehemaligen Oberschlesier für das Länderspiel am 1. Juni 1941 gegen Rumänien nominieren, denn der polnische Staatsbürger war zwischenzeitlich wieder Deutscher geworden. Aus Ernest wurde kurzerhand Ernst, aus Wilimowski ein Willimowski – mit Doppel-L –. Der „doppelte Ernst“ gab sein Debüt, aber anstelle des polnischen Roten Adlers auf der Brust trug er nun den Schwarzen Adler mit Hakenkreuz auf dem Trikot und erzielte beim 4:1 gleich zwei Tore, nun für Deutschland. 14 Tage später, am 15. Juni 1941 bestritt er sein zweites Länderspiel für Deutschland. Gegen Kroatien. Allerdings bestand die Mannschaft völkerrechtlich betrachtet kaum aus Deutschen. Es spielten die beiden ehemaligen Polen Urbanek und Willimowski sowie die fünf ehemaligen Österreicher Sesta, Mock, Schmaus, Hanreiter und Hahnemann mit. Die Regie führte ein gewisser Fritz Walter. Zumindest der war kein eingemeindeter Deutscher und stammte aus Kaiserslautern. Natürlich machte Ernst wieder ein Tor.
Davor hatte er bewegte Zeiten hinter sich. Vor allem seit dem 1. September 1939. Was mag er als Spieler von Ruch Bismarckhütte wohl gedacht haben, als er in der ehemals deutschen Bergarbeiterstadt, dem heutigen Chorzow, im polnisch/schlesischen Kohlerevier am Morgen des 1. September 1939 aufwachte. Vielleicht: Gleich Frühstück, dann geht’s zum Training, leichtes Mittagessen, danach ein paar Besorgungen machen und am Nachmittag wieder Training. Wenn er vorgehabt haben sollte, noch einen kurzen Mittagsschlaf zu halten, wäre er nicht mehr dazu gekommen, sondern hätte aufrecht im Bett gesessen. Spätestens da müsste die Kunde zu ihm durchgedrungen sein, dass die deutsche Wehrmacht kurz nach vier Uhr morgens großflächig in Polen eingedrungen war. Und wenn es nur der Kanonendonner und das Geheul der Stukas (Sturzkampfbomber) war, die ihn aufweckten.
Für die deutschen Truppen der Heeresgruppe Süd war der Weg nach Bismarckhütte nicht allzu weit. 70 km. Nach Berechnung der heutigen Navigationssysteme mit dem Auto rund 55 Minuten. Die deutschen Panzer waren ähnlich schnell. Sie stießen aus der Nordostgrenze des besetzten Tschechien und aus der Slowakei in das Braunkohlerevier vor. Am 4. September eroberte die 239. Infanteriedivision der deutschen Wehrmacht die Städte Kattowitz und Bismarckhütte inclusive Ernest Wilimowski.
Im Januar 1940, nur dreieinhalb Monate später, lief der damals beste polnische Fußballer –nunmehr wieder Deutscher- bereits für den Fußballclub „Polizei SV Chemnitz“ in der Gauliga Sachsen auf. Danach bestritt er acht Länderspiele für Deutschland. Ob er sich den Verein hatte aussuchen dürfen? Der Wechsel nach Chemnitz glich eher einer Landverschickung mit Beziehungsgeflechten. Das war schon anders am Ende der 90er Jahre, als sich die deutsche Nationalmannschaft die wenig bahnbrechenden Dienste von Sean Dundee (Südafrika), Paolo Rink (Brasilien) oder Oliver Neuville (Schweiz) sicherte. Berti Vogts war halt kein Sepp Herberger.
Aber der „neue Ernst“ war kein Kriegsgefangener. Nazi- Deutschland wollte gute deutschstämmige Spieler, um auch im Fußball die Überlegenheit der „Herrenrasse“ zu demonstrieren. Der „kleine Ernst“ (1,74 groß und 68 kg schwer) war deutschstämmig, 1916 wurde er als Ernst Otto Pradella inmitten des Ersten Weltkriegs in Kattowitz geboren und getauft. Die Bergarbeiterstadt war damals noch deutsches Staatsgebiet. Kurz darauf fiel sein Vater an der galizischen Ost-Front. Für Deutschland und Österreich/Ungarn. Er blieb vermisst. Seine Mutter Pauline heiratete später wieder und der junge Ernest trug nunmehr den Nachnamen seines polnischen Stiefvaters, Wilimowski. Mittlerweile war Kattowitz nach dem Versailler Vertrag 1919 polnisches Staatsgebiet geworden und hieß nun Kattowice. Der kleine Jung-Pole Ernest ging jetzt auf ein polnisches Gymnasium und entwickelte sich in den Folgejahren zu einem großartigen Fußballer und wurde mehrfacher polnischer Meister und Torschützenkönig.
Dann kam seine große Zeit als Fußballer mit den Höhepunkten bei der WM 1938 in Frankreich und den vielen Tore in all den Länderspielen für Deutschland. Mit 13 Toren in acht Länderspielen hatte er mit 1,625 Toren pro Spiel eine wesentlich höhere Torquote als Gerd Müller mit 1,097. Er steht mit dem „Bomber der Nation“ auf dem Olymp der großen Fußballstürmer im Umfeld vieler großartiger Stürmer. Auch wenn der Platz eng ist oben auf dem Olymp! Die Stürmer verstehen sich in ihrer Auffassung über all die mediokren Verteidiger, mit denen sie sich auseinandersetzen mussten. Für die haben die Götter keinen Platz vorgesehen.
Und dann gewann Ernst mit 1860 München am 15. November 1942 vor 80.000 Zuschauern im Berliner Olympiastadion das deutsche Pokalfinale gegen eine enorm stark besetzte Mannschaft von Schalke 04. Endergebnis 2:0. Torschütze zum 1:0: Ernst Willimowski.
Am 19. November 1942, 96 Stunden nach diesem Finale begann die Einschließung der deutschen „Sechsten Armee“ rund um Stalingrad durch die „Rote Armee“. Das Grauen dieser Schlacht bis zum 31. Januar 1943, dem Tag der Kapitulation, leitete die Wende im Zweiten Weltkrieg ein. Drei Tage nach der Einkesselung, am 22. November 1942, als der Todeskampf der „Sechsten Armee“ unter Generalfeldmarschall Paulus mit rund 300.000 Soldaten in der Eiseskälte Russlands begonnen hatte, bestritt die deutsche Nationalmannschaft –mit Ernst Willimowski – ihr letztes Länderspiel während des Zweiten Weltkrieges. In Pressburg gegen die Slowakei. Ein Sieg mit 5:2.
Exakt acht Jahre später, am 22. November 1950, durfte eine deutsche Nationalmannschaft wieder ein Länderspiel bestreiten. In Stuttgart gegen die Schweiz (1:0). Die Ächtung Deutschlands im Fußball war durch die FIFA aufgehoben worden. Vier Jahre später wurde Deutschland Weltmeister durch das „Wunder von Bern“. Aber Ernst Willimowski war nicht mehr dabei. Seine besten Jahre als Fußballer hatte er durch den schrecklichen Krieg verloren. In Herbergers Notizbuch für die Zeit „danach“ tauchte er nicht mehr auf. Zu alt. Bei der WM 1954 in der Schweiz wäre er 38 gewesen.
Nach dem Krieg konnte er nicht mehr in seine Heimat zurückkehren. Er hatte für die Deutschen gespielt. Ihm drohten Strafen der kommunistischen Regierung wegen Kollaboration mit den verhassten Deutschen. Man strich ihn aus den polnischen Fußballstatistiken. Die Tore gegen Brasilien hatte einfach ein anderer erzielt. Nun begann sein Existenzkampf, wie der von Millionen Deutschen. Der wahrscheinlich kleine Umzugswagen stand oft vor seiner Tür. „Ezi“ begann zu tingeln. Hier ein Engagement für ein paar Säcke Kartoffeln und ein beheiztes Zimmer, da ein Engagement für ein paar Reichsmark und Ami-Zigaretten, die auf den Schwarzmärkten einiges einbrachten. Die Vereine, bei denen er in den Nachkriegsjahren spielte, manchmal nur für ein paar Wochen, sind nicht mehr alle exakt nachvollziehbar. Und Ernst Willimowski überlebte eine Zeit, die aus den Fugen geraten war. Er soll ein sehr beliebter und unterhaltsamer Mann gewesen sein. Irgendwie hat er sich durchgeschlagen in der neuen Bundesrepublik. Flexibilität hatte er ja von Anfang an gelernt.
Als Trainer, als Gastronom im „Gasthaus zum Salmen“ in der Geroldsecker Straße 43 in Offenburg oder als Angestellter der Pfaff-Werke in Karlsruhe bestritt er seinen Lebensunterhalt.
„Ezi“ starb 1997 in Karlsruhe. Seinen Grabstein schmücken bis heute noch Fans seines ehemaligen schlesischen Klubs Ruch Bismarckhütte „Chorzow“. Der Familienname darauf ist wieder polnisch geschrieben, mit nur einem L. Der Vorname blieb. Das „Schlitzohr“, wie man ihn auch nannte, hat wohl Frieden mit seinem pittoresken Leben geschlossen. Polen auch. Der polnische Fußballverband ehrte ihn später mit einer Verdienstmedaille und nahm „Ezi“ in die polnische Hall of Fame auf. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird sich in ferner Zeit ein anderer Mittelstürmer ähnlicher Qualitäten in dieser Halle dazu gesellen. Robert Lewandowski.
In Deutschland erinnert man sich an ihn nicht mehr. Doch! Ernst Willimowski ist integraler Bestandteil eines Fußball- Quiz in Deutschlands Fußballkneipe des Jahres 2019, dem „Stadion an der Schleissheimer Straße“ in München. Er gibt ja so viel her für geniale Fragestellungen.