Sigmund „Sigi“ Haringer
„Die verräterische Orange“
Auf den Namen Sigmund getauft zu werden setzt seitens der Eltern normalerweise Kenntnisse des Althochdeutschen voraus.“Sigu“ steht für Sieg, und „munt“ für Schirm und Schutz. In Richard Wagners Oper „Die Walküre“ spielt Siegmund eine Hauptrolle (Heldentenor): Endergebnis der Beziehung zu seiner Schwester Sieglinde (unwissentlich): Ein Siegfried wird geboren, ebenfalls ein Heldentenor. Die ganze Geschichte endet nicht gut. Hagen von Tronje ersticht Jung-Siegfried und alles endet mit der „Götterdämmerung“. Die Welt geht unter.
Nicht im niederbayerischen Aldersbach, wo Sigmund Haringer am 9. Dezember 1908 im nahe gelegenen Weiler Karling das Licht der Welt erblickte. Seine Eltern werden den „Ring des Nibelungen“ wahrscheinlich nicht bei der Namensfindung ihres Sprösslings diskutiert haben. Sie waren einfache Bauersleut. Der Vater liebte das Bräustüberl der nahegelegenen Klosterbrauerei, wo man seine Brotzeit selbst mitbringen konnte, um mit einer frisch gezapften Maß am Stammtisch über die Politik in der Landeshauptstadt, in „Minga“, trefflich diskutieren konnte. Heute kostet der weiße Pressack im Aldersbacher Klosterstüberl € 3,50 und die Maß (1 Liter) Aldersbacher Ur-Hell € 5,80.
Da klatscht sogar die Inflation Beifall.
Es lag wahrscheinlich jenseits der Vorstellungskraft des Vaters, wahrscheinlich auch der Mutter, dass der FC Bayern mit ihrem Sprössling Sigmund am 12. Juni 1932 in Nürnberg vor 55.000 Zuschauern mit einem 2:0 gegen Eintracht Frankfurt erstmalig Deutscher Fußballmeister wurde. Mittlerweile haben die glorreichen Bayern 31 Deutsche Meisterschaften eingefahren. Da kommen wahrscheinlich noch einige weitere dazu, ungeachtet Borussia Dortmund.
Die Meisterfeier 1932 fand im Löwenbräu-Keller am Stiglmaierplatz statt. Die Maß Bier kostete 48 Pfennig, der Stundenlohn lag bei 96 Pfennig. Der Nationalsozialismus waberte schon durch den Festsaal, wo Hitler in den Jahren zuvor seine hetzerischen Reden gehalten hatte. Mit den Nazis hatte Sigi Haringer einige Jahre später noch eine unangenehme Begegnung.
Bei der WM 1934 war er gesetzt und spielte bis zum Halbfinale, das mit 1:3 gegen die CSR verloren ging. Ein Streit mit dem Reichstrainer und Zuchtmeister Otto Nerz führte zum Ausschluss Haringers. Er durfte das Spiel um den dritten Platz gegen Österreich (3:2) nicht mehr mitmachen und musste vorzeitig nach München zurückreisen. Es war die erste Suspendierung eines deutschen Nationalspielers während eines Turniers. Und das wegen einer „verbotenen Frucht“, des Genusses einer saftigen Orange. Harmlos, verglichen mit den spektakulären Rauswürfen von Uli Stein (Beckenbauer, du Suppenkasper) bei der WM 1986 in Argentinien oder von Stefan Effenberg (Stinkefinger gegenüber den deutschen Fans im Stadion von Dallas während der WM 1994 in den USA). Am 5. September 1935 berief Trainer Nerz Sigi Haringer aber wieder in die Nationalmannschaft, gegen Polen (1:0) in Breslau. Mit dem Spiel Deutschland-Belgien (1:0) am 25. April 1937 endete seine Karriere als Nationalspieler.
Deutscher Meister 1932: v.l. Sigi Haringer; Josef Bergmaier; Hans Welker; Konrad „Conny“ Heidkamp; Josef Lechler; Ernst Nagelschmitz; Robert Breindl; Franz Krumm; Hans Schmid; Ludwig Goldbrunner; Oskar „Ossi“ Rohr.
Ein Vorfall am 9. November 1937 hatte für Sigi erheblichere Unannehmlichkeiten zur Folge als der Rausschmiss 1934 in Rom. Er verbrachte die Nacht in einer Zelle des Polizeireviers an der Ledererstrasse unweit des Hofbräu-Hauses in München. Was war passiert? Wie jedes Jahr veranstalteten die Nazis an diesem Tag einen Schweigemarsch zur Feldherrnhalle, wo der Putschversuch von Hitler am 9. November 1923 für einige Nazis, aber auch für einige Polizisten tödlich endete. Haringer verließ nach Mitternacht mit einigen Freunden das Cafe Keckeisen in der Maximilianstrasse 44 und traf auf ein paar Teilnehmer des Schweigemarsches, SA-Leute. Dabei soll er nach Angaben einer Augenzeugin namens Elsa K. gesagt haben: „Eli (ein Freund), jetzt ist das Kasperltheater aus“. Frau K: „Daran habe ich Ärgernis genommen und die Herren vom Arbeitsdienst um Vorführung dieses Mannes ersucht“.
Das hätte böse Konsequenzen haben können bis hin zur Einweisung in ein KZ. Dank seiner Reputation als Nationalspieler und des klugen juristischen Beistandes eines Wackeraners, Dr. Adolf Brandweiner (Parteimitglied,) stellte der Oberstaatsanwalt des Landgerichtes München das Verfahren am 15. Dezember 1937 ein. Die Zeitzeugin Magdalena Heidkamp, Frau seines Mitspielers in der Verteidigung beim FC Bayern München, Conny Heidkamp, (ebenfalls Nationalspieler) brachte es auf den Punkt:“ Es war eine Zeit, die für jeden gefährlich wurde, der seinen Mund nicht halten konnte. Sigi Haringer, einer unserer besten Spieler, war so einer, immer vorneweg mit seinem Mundwerk“.
Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass Reichstrainer Otto Nerz den Sigi nicht nur wegen des Genusses der saftigen Orange suspendierte. Die Nationalmannschaft wurde entsprechend des politischen Geistes der 30er Jahre sehr autoritär von Nerz und seinem Nachfolger Sepp Herberger (ab 1936) geführt. Ein lockeres Mundwerk passte nicht dazu.
Fortan spielte Haringer -mit einer kurzen Unterbrechung beim 1.FC Nürnberg- bis zum Karriereende beim damals neben dem FC Bayern und 1860 München führenden Club in der bayerischen Landeshauptstadt, beim FC Wacker München, bis 1943.
Nach dem Zweiten Weltkrieg verdiente er wie viele andere Top-Spieler zunächst seinen Lebensunterhalt mit einem Lotto/Toto-Laden und Zeitungsverkauf. Später arbeitete er bis zu seiner Rente als Angestellter der Oberfinanzdirektion München. Sigmund Haringer verstarb früh, mit 66 Jahren.
Uwe Morawe
Die verräterische Orange
Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn, im dunklen Laub die Goldorangen glühn…“
Was ist denn das für ein billiger Knittelvers, blühn/glühn, kann doch jede Fünfjährige, da braucht’s doch keinen Dichter net. Sigmund Haringer vom FC Bayern München fühlte die Wut in sich hochsteigen. Goethe, du Lackaff, stell du dich mal hier nei in die Gluthitz auf dem Bahnsteig mit dei Frackschössen, Strumpfhosen und Schnallenschühchen, da möcht ich dich hören von wegen dunklem Laub und Goldorangen, dammischer Johann Wolfgang von, dammischer! Der Haringer Sigi wusste natürlich, dass der Goethe nichts dafürkonnte. Aber er hatte halt schon immer auf der obergärigen Seite des Lebens gestanden. Er liebte sein Weißbier, und wenn‘st das Weißbier zu unbedächtig einschenkst, dann schäumt‘s über. Und genau so war er halt, der Sigi.
Seit geschlagenen 40 Minuten stand die deutsche Nationalmannschaft nun schon in der grellen Mittagssonne auf dem Bahnsteig in Neapel. In schwerer Mannschaftsuniform mit Schiebermütze. Morgen stieg im San Paolo das Spiel um Platz 3 gegen Österreich. Der Funktionär vom Fachamt Fußball, wie es neuerdings hieß, sollte sie abholen und hatte sich offenkundig verspätet. Kann vorkommen, doch warum war man nicht in die schattige Bahnhofshalle gegangen? Wie Zinnsoldaten standen sie da, der Szepan, der Lehner, der Janes und sagten kein Wort. Abgemachter Treffpunkt war Bahnsteig, gemeinsames Ausharren sei Ehrensache, Teamspirit – diese zackigen Ansprachen und Bevormundungen von Reichstrainer Otto Nerz waren es, die dem Sigmund Haringer so gegen den Strich gingen.
Vor drei Jahren, als der Sigi zum ersten Mal zur Nationalelf kam, war der Nerz noch ein durchaus umgänglicher Mann gewesen. Seinen Hang zu britischen Ausdrücken – Teamspirit! – hatte er schon damals, genauso wie seine geliebten Knickerbocker. Emporgearbeitet aus dem Arbeitermilieu Mannheims war Nerz der SPD treu geblieben – bis Anfang 1933. Da ging es direkt ab in die SA. Und jetzt war der Mann kaum noch auszuhalten, zumindest nicht für Sigmund Haringer. Wenn sich einer für ein bisserl was Besseres hielt, wie der Goethe früher sicherlich auch – damit hatte der Haringer nie ein Problem gehabt. Einen flotten Spruch machen, mal schauen, ob der Hochnäsige mitlacht, da weisst wo du dran bist. Doch wenn sich einer gleich für die menschgewordene Neue Zeit hält, da bist du machtlos.
Das Training von Otto Nerz war jetzt Wissenschaft. Behauptete er. Steigerungsläufe, Kraftübungen, Liegestütze, Klappmesser, Kniebeugen, Steigerungsläufe. Den Ball sahen die Fußballer fast nur noch in den Spielen. Hätt´ ich ja gleich Turner oder Leichtathlet werden können, dachte Sigi Haringer. Und das schlimmste, allerschlimmste war die Ernährung. Auf Schweinsbraten oder ähnlich schwere Kost zu verzichten, das leuchtete dem Sigi ja noch ein. Doch dieses Trinkverbot! Ein halber Liter Flüssigkeit am Tag, mehr bekamen sie nicht. Streng rationiert und überwacht, morgens eine Tasse Kaffee oder Tee und abends ein winzig kleines Flascherl Wasser. Neue Zeiten sind angebrochen, so das Postulat von Otto Nerz. Die Wissenschaft habe erwiesen, dass Wasser die Körperzellen aufschwemme. Wer viel trinkt, der schwitzt viel, und Schwitzen ist ein Ausdruck von schlechtem Körperzustand. Wissenschaftlich erwiesen! Selbst Zitronen oder Orangen durften nicht gegessen werden. Zu viel Flüssigkeit, das wäre Verrat an der Mannschaft, ein Verbrechen am Teamspirit!
Für Haringer waren es die schlimmsten zwei Wochen des Lebens. Die Kameradschaft untereinander war Eins A, da gab es nichts. Doch diese immerwährende Trockenheit im Mund, diese Wüste Gobi auf der Zunge, das schlug aufs Gemüt. Zu Hause in München hatte er jeden Abend seine Weiße getrunken. Er mochte gar nicht dran denken… Trotz alledem hatten die Deutschen bisher ein gutes Turnier gespielt. Siege über Belgien und Schweden, eine achtbare Halbfinalniederlage gegen die starken Tschechen, die seit zehn Jahren Vollprofis waren. Alle waren sich einig, das war die beste Nationalmannschaft aller Zeiten bisher. Blutjung, mit enormen Perspektiven und herausragenden Einzelkönnern. Und dennoch haderte Haringer auch hier mit dem Reichstrainer. Der hatte fatalerweise das in Mode gekommene WM-System für sich entdeckt. Otto Nerz verlangte absolute Positionstreue auf dem Feld.
Doch wie kann das sein, dachte der Haringer Sigi. Wenn jetzt alle dieselbe Taktik spielen, wie kann da die Taktik der Schlüssel zum Erfolg sein, ist doch unsinnig. Haringer war sich sicher, wenn diese Jungs mit mehr Eigenverantwortung ausgestattet frei aufspielen könnten, dann wäre diese Mannschaft bald noch viel besser.
Doch Nerz verlangte vor allem höggschte Disziplin und presste herausragende Individualisten wie den hochsensiblen Stürmer Edmund Conen oder den zurückhaltenden Otto Siffling in seine Schablonen. Und wer nicht spurte, der war draußen. So wie der Dresdner Richard Hofmann, der sich im DFB-Trikot für eine Zigarettenwerbung hatte ablichten lassen Verstoß gegen das Amateurstatut und Verrat am Teamspirit! Oder wie der Schalker Dickschädel Ernst Kuzorra, der schon geahnt hatte, auf welchen Kasernenhof-Drill das Hinaus laufen würde und die WM-Teilnahme von sich aus abgesagt hatte.
Übrig blieben allzu durchtrainierte brave blonde Jungs. So wie sie jetzt sein sollten, rank und schlank, flink wie Windhunde, zäh wie Leder. Von einer eigenen Meinung und Persönlichkeit war in all den Reden interessanterweise nie die Rede. Sigmund Haringer hatte das Gefühl, da stinkt etwas ganz gewaltig. Wer waren denn diese Herren, die die Neue Zeit ausriefen, die Überlegenheit der deutschen Tugend und der deutschen Rasse. Der Nerz, der konnte doch nicht mal den Ball hochhalten, ein lausiger Kicker war das. Und die neuen Politiker, denen der Reichstrainer nachschwadronierte?
Diese Herrschaften, die zum Beispiel beim FC Bayern den Präsidenten Landauer und den Trainer Dombi vertrieben hatten, nur weil sie Juden waren. Diese neuen Menschen sollten tugendhafter als der feine Landauer sein? Der Goebbels schob sabbernd seinen Klumpfuß unter jeden Schauspielerinnenrock, der Göring war ’ne fette Sau, und der Hitler predigte blond, sah aber aus wie ein Slawe. Sigi Haringer wurde jetzt so richtig grantig. Von wem lassen wir uns hier eigentlich vorschreiben, was wir zu tun hätten? Dem Sigi reichte es. Er löste sich aus der Gruppe, ging auf einen Obststand zu und kaufte sich die dickste und prallste Orange, die er finden konnte. Herrlich, wie der süße Saft die Kehle runterfloss. Da hörte er es schon von hinten. Diese unangenehm schneidende Stimme: „Haringer! Das ist Verrat an der Mannschaft! Das geht hinterrücks gegen den Teamspirit!“
Noch auf dem Bahnhofsgleis wurde Sigmund Haringer als erster deutscher Nationalspieler aus einem WM-Kader suspendiert. Er stieg in den nächsten Zug nach München und genoss am nächsten Morgen seine Ruhe und sein Frühstück – a Brez‘n, a Weißwurst und selbstredend a kühles, frisches Weißbier.