Helmut Schön
Der Mann mit der Mütze
Die DDR war irgendwie sein Schicksal. Er hatte mit seiner späteren Frau und dem gerade geborenen Sohn Stephan das Bombardement Dresdens im Februar 1945 überlebt und auch die schwierige Zeit danach recht geschickt mit verschiedensten Tätigkeiten gemeistert, die ihn auch für kurze Zeit mal nach Hamburg führten. Und dann installierten ihn die Sportfunktionäre der neugegründeten DDR im Mai 1949 als Trainer einer Zonen-Auswahl, neben seiner Tätigkeit als Spielertrainer bei der SG Friedrichstadt, dem Nachfolgeverein des von der SED aufgelösten Dresdner SC. Das ging nicht lange gut, denn der Individualist Schön kam mit den kollektiven Ansichten und dem auch in Sportfragen diktatorischen Verhalten der Vertreter des real existierenden Sozialismus überhaupt nicht zurecht. 1950 floh Helmut Schön mit seiner Familie über West-Berlin, wo er ein kurzes Engagement bei Hertha BSC einging, in den Westen und ließ sich in Wiesbaden nieder, um dort als Trainer des SV Wiesbaden seine bürgerliche und sportliche Existenz zu begründen.
Aber die DDR holte ihn noch mal ein, genau am 22. Juni 1974 in Hamburg. Die Bundesrepublik verlor ihr WM-Vorrundenspiel im zum „Bruderkampf “ hochstilisierten Match gegen die DDR mit 0:1. Schon vorher hatte es im Verhältnis zwischen Trainer und Mannschaft gekriselt. In den Medien diskutierte man die hohen Prämienforderungen der Spieler. Beschwerden über die unzeitgemäße Kasernierung in der Sportschule Malente kamen hinzu. In der sensationellen und für die westdeutschen Medien und Fans unfassbaren Niederlage gipfelte dann die Krise.
Helmut Schön war physisch und psychisch schwer angeschlagen. Verständnislos, fast ratlos stand er diesem Spielerverhalten gegenüber. Er arrangierte sich damit, dass de facto Franz Beckenbauer in kluger Abstimmung mit ihm eine über das normale Maß hinausgehende Führungsrolle in der Mannschaft übernahm und das Personalkarussell in seinem Sinne drehte. Schön analysierte ruhig und sachlich, Beckenbauer polterte und sprach die unangenehmen Dinge aus. Die Arbeitsteilung ging auf.
Das DDR-Spiel wirkte wie eine Katharsis auf dem Weg der westdeutschen Nationalmannschaft zum WM-Titel 1974. Helmut Schön hatte unter für ihn persönlich schwierigen Bedingungen einerseits Stärke und Durchhaltevermögen gezeigt. Andererseits entwickelte er das richtige Gespür für die Notwendigkeit einer zurückgenommenen Rolle bei der Formierung und taktischen Ausrichtung der Mannschaft. Dank ihrer spielerischen Fähigkeiten und als neue kämpferische Einheit drang sie bis ins Finale vor und gewann am 7. Juli 1974 im Münchner Olympiastadion gegen die favorisierten Niederlande mit einem 2:1-Sieg die zweite Weltmeisterschaft für Deutschland nach 1954.
Das DDR-Spiel wirkte wie eine Katharsis
Helmut Schöns Fußballkarriere begann in Dresden und war so erfolgreich, dass ihn Reichstrainer Sepp Herberger am 21. November 1937 erstmals das Nationalmannschaftstrikot tragen ließ, als Stürmer in der legendären Breslau-Elf neben Szepan, Lehner und Siffling.
Seine Karriere in der Nationalmannschaft wäre sicherlich noch erfolgreicher verlaufen – immerhin erzielte er in 16 Länderspielen 17 Tore –, wenn es nicht den Befehl der Nationalsozialisten gegeben hätte, nach dem Anschluss Österreichs die deutsche Mannschaft für die WM 1938 mit mindestens fünf österreichischen Spielern zu besetzen. Und ab 1939 machte der Zweite Weltkrieg seine Perspektive als junger Weltklassefußballer zunichte. Aber mit dem Dresdner SC feierte er noch große Triumphe, zwei Deutsche Meisterschaften (1943 und 1944) und die DFB-Pokalsiege 1940 und 1941 waren die Krönung seiner aktiven Laufbahn.
Die große Karriere machte er dann als Trainer. Eine wichtige Weichenstellung war dank der Vermittlung Sepp Herbergers sein Engagement als Verbandstrainer des Saarlandes, das damals noch unabhängiges FIFA-Mitglied war und dessen Verband einen bereits sehr einflussreichen Vorsitzenden hatte, Hermann Neuberger, von 1975 bis 1992 dann DFB-Präsident. Ähnlich wie 1974 bescherte Schön die Auslosung zur WM-Qualifikation 1954 ein „Bruderduell“, damals gegen die Bundesrepublik Deutschland mit Sepp Herberger als neuem Bundestrainer. Das kleine Saarland, für dessen Nationalelf fast ausschließlich Akteure des 1. FC Saarbrücken aufliefen, schlug sich in dieser Qualifikation sehr achtbar. Gegen die Bundesrepublik gab es zwar in Stuttgart ein 0:3 und in Saarbrücken ein 1:3, dafür gewann die Saarland-Auswahl in Oslo gegen Norwegen mit 3:2 und erreichte im Rückspiel ein 0:0. Damit konnte das Saarland sich sehen lassen. Der Zwergstaat unter französischem Protektorat wurde Zweiter in der Gruppe, die DFB-Elf durfte an der WM 1954 in der Schweiz teilnehmen. Aber Helmut Schön hatte sich qualifiziert. Schon kurz vor dem Beitritt des Saarlandes zur Bundesrepublik Deutschland als zehntes Bundesland am 1. Januar 1957 – nach einer Volksabstimmung – trat er als Assistent von Sepp Herberger in die Dienste des DFB. Jetzt ging er durch eine harte Schule, und an der Seite seines Lehrmeisters konnte er mit den Teilnahmen an den Weltmeisterschaften 1958 in Schweden und 1962 in Chile große Erfahrungen sammeln, die es ihm als verantwortlichem Trainer ermöglichten, den Nimbus der Deutschen als exzellente Turniermannschaft in den folgenden Jahrzehnten aufrechtzuerhalten. Am 7. Juni 1964 saß er als Nachfolger Herbergers beim 4:1 Länderspielsieg gegen Finnland in Helsinki erstmals alleinverantwortlich auf der Trainerbank. Es war eine Zeitenwende, denn auf den autoritären Herberger folgte ein sozialliberal denkender und handelnder Nationaltrainer, der sehr gut in das sich verändernde gesellschaftspolitische Umfeld jener Jahre in Deutschland passte. Der Übergang von Adenauer zu Brandt im politischen Bereich und der von Herberger zu Schön im wichtigsten Sport der Deutschen symbolisierte die Veränderungen, die sich auch auf dem Fußballfeld zeigten. Wo früher Autoritäten die Linie kerzengerade vorzeichneten, erwuchs unter dem demokratischen Führungsstil Helmut Schöns die beste Auswahl, die Deutschland je repräsentierte. Und er hatte eine neue Generation von jungen Spielern zur Verfügung, vor allem aus den himmelsstürmenden Clubs von Bayern München und Borussia Mönchengladbach. Schon der zweite Platz bei der WM 1966 in England, der noch mit vielen Routiniers aus der Herberger-Ära erspielt wurde, deutete die Entwicklung einer spielerisch großartigen Nationalmannschaft an, deren Glanz beim Gewinn der Fußballeuropameisterschaft 1972 am größten war. Bereits der Auftritt Deutschlands bei der Fußball-WM 1970 in Mexiko mit den großartigen, nationale Emotionen weckenden Spielen gegen England im Viertelfinale und Italien im Halbfinale hatte diesen Höhenflug eingeleitet. Aber diese Brillanz des Offensivspiels musste in Richtung WM 1974 anderen Tugenden und Taktiken weichen, um Weltmeister zu werden: Kampf und Disziplin, Libero und Manndeckung, und vorne Gerd Müller.
Nach dem Titelgewinn 1974 hätte Helmut Schön zurücktreten sollen. Die Spieler entglitten ihm zusehends, zu wenig Konfliktbereitschaft, zu viele Kompromisse. Das Erreichen des Finales der Europameisterschaft 1976, das die Mannschaft im Elfmeterschießen gegen die Tschechoslowakei verlor, kaschierte diese negative Entwicklung. Der schwache WM-Auftritt 1978 in Argentinien mit dem 2:3-Knockout gegen Österreich in Cordoba mündete in einem zu späten Rücktritt, nach 25 WM-Spielen als alleinverantwortlicher Trainer, so vielen wie kein anderer bisher.
Sein Abschied fand im Nebel statt. Am 15. November 1978 saß er beim Länderspiel Deutschland gegen Norwegen, das im Frankfurter Waldstadion stattfand, zum letzten Mal auf der Bank. Nach 60 Minuten war die geplante Fußballgala zu Ehren des großen Trainers vorbei. Starker Nebel machte ein Weiterspielen unmöglich, und Schiedsrichter Robert Wurtz aus Frankreich musste das Spiel abbrechen. Es blieb bis heute das einzige Länderspiel einer deutschen Nationalmannschaft, das mit einem Abbruch endete.
Die Begleitumstände seines Rücktritts taten dem so lange erarbeiteten Renommee Helmut Schöns keinen Abbruch. Dafür war er zu erfolgreich und liebenswert. Franz Beckenbauer sagte über ihn: „Er war ein Herr. In jeder Lebenslage war er ein Herr.“ Und Udo Jürgens widmete ihm einen Song, in dem es heißt: „Der Mann mit der Mütze geht nach Haus, die lange Zeit des Langen, sie ist aus, und unsere Achtung nimmt er mit und unseren Applaus.“
Mit den höchsten Auszeichnungen dekoriert, zog sich der „Mann mit der Mütze“ ins Private zurück. In den 90er Jahren wurde es still um ihn. Er litt unter der Alzheimer-Krankheit und verstarb im Februar 1996 nach einem langen, bewegten Leben.
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