Giuseppe Meazza
„Siegen oder sterben“
Man stelle sich vor: WM-Endspiel 1974 in München. Elfmeter für Deutschland beim Stand von 0:1. Paul Breitner schreitet zur Exekution, legt den Ball in etwas seltsamer Haltung mit einer Hand auf den Elfmeterpunkt. Warum? Der Gummizug seiner Hose ist gerissen, mit einer Hand muss er die Hose festhalten, sonst wäre er unten ohne. Helmut Schön bemerkt das. Herzinfarktgefährdet schreit er: „Du schießt nicht!“ Breitner lacht nur. Schiedsrichter Taylor pfeift und Breitner verzichtet angesichts der etwas komplizierten Rahmenbedingungen auf einen längeren Anlauf, hält die Hose mit der linken Hand und macht nur einen Schritt zurück, dann den entscheidenden nach vorne und versenkt den Ball links unten, flach und präzise neben den Pfosten zum 1:1. Torwart Jongbloed bleibt konsterniert stehen. Trainer Helmut Schön heult vor Freude.
Er rettete mal wieder seinen Mitspielern das Leben
So ähnlich muss es am 16. Juni 1938 im Stade Velodrome von Marseille abgelaufen sein. Italien als Titelverteidiger von 1934 traf im Halbfinale der Fußballweltmeisterschaft in Frankreich auf Brasilien, nach Meinung aller Experten das vorweggenommene Endspiel. In der 60. Minute erhielt Italien, das 1:0 führte, nach einem Foul an Silvio Piola einen Elfmeter zugesprochen. Mittelstürmer Giuseppe Meazza trat trotz seines Handicaps des gerissenen Hosen-Gummizuges zur Ausführung des Strafstoßes an. Italiens Trainer Vittorio Pozzo schrie: „Nein! Du nicht!“ Vielleicht ging ihm gerade der Text des Telegramms durch den Kopf, das Diktator Benito Mussolini noch am Tag vorher – wie immer vor wichtigen Spielen – ins Mannschaftsquartier geschickt hatte: „Siegen oder sterben“. Meazza jedenfalls negierte die unvorteilhafte Quintessenz des Telegramms und auch die Gefahr, als nacktes Siegerdenkmal da zu stehen. Seine linke Hand klebte an der Hüfte, ein Schritt nach vorne, und mit den kalten Augen eines Mafiakillers vollzog er die Exekution. Das Netz wölbte sich zum 2:0, Meazza hatte mal wieder seinen zehn Mannschaftskollegen und dem Trainer das Leben gerettet. Voller Respekt schrien die Zuschauer von Marseille: „Il a des couilles“, und meinten damit sehr südländisch, dass bei einem echten Mann die Kraft unter der Gürtellinie liegt. Dann ging es zum Finale nach Paris. Ein paar Tage später verteidigte Italien mit einem souveränen 4:2 gegen Ungarn seinen Weltmeistertitel von 1934.
Meazza und die Mitspieler kehrten als große Helden triumphal in das neue Rom zurück, so wie Cäsar mit seinen siegreichen Legionen aus Gallien kommend in das alte Rom einzog. Und Trainer Vittorio Pozzo adelte seinen Mittelstürmer mit der Aussage: „Giuseppe Meazza in der Mannschaft zu haben bedeutet mit 1:0 anzufangen.“
Kurz darauf gab es einen Bruch in Meazzas Karriere. Ein Autounfall bescherte dem WMHelden eine schwere, mit vielen Operationen verbundene Fußverletzung, die ihn zu einer fast zweijährigen Pause zwang. In dieser Zeit begann der Zweite Weltkrieg, und einer der Aggressoren war Italien als Folge des Großmachtstrebens des „Duce“, Benito Mussolini. Meazza, mittlerweile dreißig Jahre alt, musste nicht zum Militär und wagte 1940 einen sportlichen Neuanfang. Und der war spektakulär, denn er wechselte von Inter Mailand, für das er seit seiner Jugend spielte, zum großen Stadtrivalen AC Mailand. Nur einem Volkshelden wurde ein solcher Wechsel verziehen, und San Siro im Norden der lombardischen Metropole blieb weiter Meazzas „Opera del Calcio“. Jetzt bestritt er seine Aufführungen im rot-schwarzen Trikot der „Rossoneri“.
Mit seinem Wechsel zu Juventus Turin 1942 konnte er sich erneut das Trikot eines berühmten Clubs überstreifen, aber die Qualität des Spielbetriebs in Italiens erster Fußball-Liga war mittlerweile stark beeinträchtigt, weil Italien nach der Landung der Alliierten in Sizilien (Juli 1943) und in Kalabrien (September 1943)zum Kriegsschauplatz geworden war. Deshalb wurde zwischen 1943 und 1945 keine italienische Meisterschaft mehr ausgespielt.
Mit der Saison 1946/47 ließ Meazza seine große Karriere da ausklingen, wo sie begonnen hatte, bei Inter Mailand. Am 29. Juni 1947 lief er gegen den FC Bologna zum letzten Mal im blauschwarzen Dress auf und übernahm dann für ein Jahr (Saison 1947/48) das Traineramt seines Clubs. Dabei blieb es, denn seinen weiteren Versuchen, sich als großer Trainer zu etablieren, waren keine Erfolge beschieden. Er kümmerte sich bis zu seinem Tod um Inter Mailands Jugend und war für Italiens Sportpresse ein häufig gefragter Kommentator zu aktuellen Themen, vor allem aber als Zeitzeuge einer sehr erfolgreichen Fußballs mit zwei Weltmeistertiteln, die unter den äußerst schwierigen politischen Rahmenbedingungen der 30er Jahre in Italien gewonnen wurden. Den Großteil seiner Fußballkunst als einer der besten Stürmer Italiens aller Zeiten musste Meazza im Schatten des Faschismus zeigen. Mit der Machtübernahme Mussolinis in den 20er Jahren wurde der Massensport – wie in Hitlerdeutschland – den Propagandazwecken des neuen Herrschaftssystems untergeordnet. So nutzten Hitler und die Nationalsozialisten die Olympischen Spiele 1936 (Garmisch-Partenkirchen und Berlin), um von ihren nach innen und außen gerichteten Aggressionsplänen abzulenken. Die Ausrichtung der Fußball-WM 1934 in Italien bot Mussolini und den Faschisten eine Plattform, mit neuen Stadien und propagandistischen Inszenierungen der ganzen Welt Italiens neue Größe zu zeigen. Dazu gehörte natürlich der WM-Titel, der, wie man heute weiß, mit allen Mitteln erzwungen wurde, nicht nur sportlich, sondern auch durch Einflussnahme auf die Schiedsrichter. Der Gewinn des zweiten WM-Titels 1938 in Frankreich wurde dagegen von der Fachwelt als absolut verdient anerkannt.
Als Giuseppe Meazza 1979 im ligurischen Badeort Rapallo verstarb, waren die Tifosi von Inter Mailand und AC Mailand in Trauer vereint, und das kommt selten vor. Unmittelbar nach seinem Begräbnis in exponierter Lage auf dem gewaltigen Cimitero Monumentale in Mailand setzten sich die Funktionäre der beiden Clubs zusammen und diskutierten darüber, dem Stadio San Siro den Namen des Spielers zu geben, der einer der besten und erfolgreichsten in Italiens Fußballgeschichte war und vereinsübergreifend für den Ruhm von Mailands Fußball steht. Am 3. März 1980 erfolgte mit dem Einverständnis der Fans die offizielle Umbenennung in „Stadio Giuseppe Meazza San Siro“, eine der Kathedralen des Weltfußballs. Unvorstellbar, dass eines Tages dieser Name auf dem Altar des Kommerzes geopfert würde und das Stadion den Namen des zahlungskräftigsten Sponsors erhielte.
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