Franz „Bimbo“ Binder
Der österreichische Bomber
Am 22. Juni 1941, zwischen 3:05 Uhr und 3:30 Uhr, begann auf breiter Front der deutsche Überfall auf Russland, das sogenannte Unternehmen Barbarossa. Zwölf Stunden später pfiff Schiedsrichter Reinhardt vor 95.000 Zuschauern im Berliner Olympiastadion das Endspiel um die „großdeutsche“ Fußballmeisterschaft zwischen Schalke 04 und Rapid Wien an, bewacht von den mächtigen Flakgeschützen auf den obersten Rängen der monumentalen Arena. Zuvor hatte Stadionsprecher Rolf Wernicke martialisch verkündet: „Ab heute früh wird geschossen!“ Die Zuschauer sprangen auf und brüllten: „Sieg Heil!“ Während an der Ostfront der Zweite Weltkrieg auf den finalen Irrsinn zusteuerte und schon in den ersten Stunden dieses mörderischen Russlandfeldzuges Tausende deutsche und russische Soldaten ihr Leben ließen oder schwer verwundet wurden, machte Franz Binder das Spiel seines Lebens und trug zur Legendenbildung über dieses Finale entscheidend bei.
Schalke 04, das in den Jahren zuvor fünf Meistertitel gewonnen hatte, wollte nach 1939 und 1940 den Titel-Hattrick schaffen und ging als klarer Favorit in das Endspiel. Bald stand es 2:0, und die Zuschauer skandierten „neun zu null“, denn zwei Jahre zuvor hatte Schalke 04 an gleicher Stelle im ersten Endspiel um die „großdeutsche“ Meisterschaft nach dem Anschluss Österreichs Admira Wien mit 9:0 geschlagen.
„Bimbo Binder bombt Schalke aus dem Endspiel“
Als auch noch das 3:0 fiel, war es scheinbar entschieden, dass erneut das „Altreich“ über die „Ostmark“ triumphieren würde. Aber mit der „Klugheit der nüchternen Vernunft“, wie der „Kicker“ formulierte, brachte Franz Binder Rapid mit einer Vorlage auf Schors, der in der 59. Minute das Anschlusstor erzielte, wieder ins Spiel zurück, das sich binnen elf Minuten vollständig drehte. Mit seinen Toren in der 62., 63. und 70. Minute schoss Binder Rapid mit 4:3 in Führung. Dabei blieb es, und Franz Binder durfte als Kapitän den Meisterpokal, die „Viktoria“, in Empfang nehmen. Das „Altreich“ war geschockt, Österreich jubelte, und die Wiener Zeitungen titelten im kriegerischen Sprachgebrauch jener Zeit: „Bimbo Binder bombt Schalke aus dem Endspiel“.
Seinen Beinamen Bimbo, unter dem ihn alle Österreicher kannten, verdankte er einem Kinobesuch. Im Januar 1936 machte Rapid Wien auf der Rückkehr von einer Gastspielreise in Nordafrika in Frankreich Halt. Abends schaute sich die Mannschaft den Kinofilm „Der Wirbelsturm“ an, in dem ein langer Schwarzafrikaner durch die Wüste hatschte, ganz ähnlich, wie Rapids Mittelstürmer sich über das Feld bewegte. Im Film nannten alle den Schwarzen „Bimbo“, und nach dem Verlassen des Kinos hatte Franz Binder seinen (in jener Zeit nicht als anstößig empfundenen) Beinamen weg.
Dem Idol blieb 1941 nicht viel Zeit zu feiern, weil er und seine Mitspieler Raftl und Pesser bald eingezogen wurden und an die Front mussten. Mit der „zweiten Wiener Panzerdivision“ ging es in die Kesselschlachten von Smolensk und Orel, später in die Normandie, wo er als Sanitätskraftwagenfahrer den D-Day, die Landung der Alliierten, erlebte. Schließlich musste er noch die Ardennenoffensive über Weihnachten und Neujahr 1944/45 mitmachen.
Binder überlebte und kehrte nach der Gefangenschaft Ende 1945 nach Wien zurück. Sein Sohn Franz erzählt: „Er war Gefreiter, EK II mit Auszeichnung, drei Monate Gefangenschaft, als Niederösterreicher bei den Franzosen. Der Kommandant hat ihn kennt. Im Camp haben sie das erste Match Frankreich-Österreich gemacht und absichtlich verloren, weil die Rationen gut waren. Dann war er drei Monate bei einem Bergbauern, in Kufstein, die Alm versorgen, die Mutter hat erzählt, er is heimkommen, braungebrannt und ausg’fressen, in Wien ham s’ alle g’schaut. Von der Meistermannschaft haben alle den Krieg überlebt.“
Mit 34 Jahren zog „Bimbo“ Binder das grün-weiße Rapid-Trikot wieder an, fungierte gleichzeitig als Sektionsleiter und gewann 1946 und 1948 noch zweimal die Österreichische Meisterschaft. 1949 beendete er seine große aktive Karriere, um weiter als Sektionsleiter, heute Technischer Direktor genannt, daranzugehen, mit Trainer Hans Pesser eine neue, starke Rapidmannschaft aufzubauen, die später die wohl beste Zeit des österreichischen Fußballs nach dem Zweiten Weltkrieg repräsentieren sollte. Die Namen Zeman, Happel, Merkel, Hanappi, Probst, Dienst und Körner haben heute noch eine Aura in der Alpenrepublik wie die 54er Weltmeister in Deutschland.
Binder wurde 1911 in die tristen wirtschaftlichen Verhältnisse eines St. Pöltener Proletarierhaushaltes hineingeboren. Außer Fußball gab es in dem „Glasscherbenviertel“ rund um den Mühlweg nichts. Hier lernte er, sich durchzusetzen, wobei ihm seine Physiognomie zustatten kam. Er war 1,90 m groß, hatte einen kräftigen Körper, den er rücksichtslos einsetzte, und zeigte eine wilde, von unbändiger Kraft strotzende Spielweise.
Der Sankt Pöltener hatte den härtesten Schuss Österreichs, der ihn schon früh zum Schrecken der Provinztorhüter machte und ihm im Laufe seiner Karriere eine berauschende Quote an Toren verschaffte. Nach dem Brasilianer Arthur Friedenreich (vermutlich 1239 Tore) war es „Bimbo“ Binder, der als zweiter Spieler mit nachweislich 1006 Toren weltweit den 1000-Tore-Gipfel bezwang, später gefolgt von Pelé (1281 Tore). Wie viele wären es wohl geworden, wenn ihn der Zweite Weltkrieg nicht drei Jahre seiner fußballerischen Karriere gekostet hätte! 1930 verpflichtete ihn Rapid Wien, und seine neue Heimat war nun die „Pfarrwiese“ im Wiener Arbeiterviertel Hütteldorf, die Heimstätte der Grün-Weißen. Franz Binder wurde zu einem der auffälligsten, auch über die Grenzen hinaus bekannten österreichischen Fußballer mit stattlicher Titel- und Trophäensammlung.
Vielleicht war ihm ganz recht, dass der deutsche Reichstrainer Sepp Herberger ihn nach der Annexion Österreichs 1938 nicht in den Kader berief, der für das neue „Großdeutschland“ bei der Weltmeisterschaft 1938 in Frankreich den Titel holen sollte. Nach der Schlappe im Land des damaligen „Erbfeindes“ musste Binder aber ran. Am 25. Januar 1939 bestritt er in Brüssel beim 4:1-Sieg über Belgien sein erstes von insgesamt neun Länderspielen für Deutschland. Doch bald darauf legte sich der Schatten des Weltkrieges über Europa, und der internationale Spielbetrieb kam großteils zum Erliegen.
Im Jahr 1952, Wien stand noch unter der Kontrolle der Alliierten, verließ Franz Binder nach sehr erfolgreicher Arbeit seine Rapidler, die 1951 Meister geworden waren, und ging ins nahe Ausland, wo er Jahn Regensburg, den 1. FC Nürnberg und den PSV Eindhoven trainierte. 1962 kehrte er als Sektionsleiter zu Rapid zurück und gewann 1964 abermals die Meisterschaft. 1966 verließ er Rapid erneut und trainierte SW Bregenz, später Jahn Regensburg und 1860 München. 1975 sprang er nochmals bei den Hütteldorfern ein und gewann mit Trainer Robert Körner 1976 den Cup. Dann setzte er sich endgültig zur Ruhe und war bis zu seinem Tod 1989 ein stets gern gesehener Ehrengast der Rapid-Heimspiele im neuen Gerhard-Hanappi-Stadion.
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