Nándor Hidegkuti
Der wandernde Mittelstürmer
Man nannte ihn den „Alten”, weil er erst jenseits des 30. Lebensjahres seine großartigen fußballerischen Fähigkeiten voll ausspielte und zum Weltstar wurde. Dabei war ihm diese Karriere nicht in die Wiege gelegt worden. Nur durch Fleiß, Ausdauer und Hartnäckigkeit – nicht durch Begabung – erkämpfte Hidegkuti sich seine Ausnahmestellung im Fußball der 50er Jahre und gab das offen zu: „Gott, was hätte ich dafür gegeben, so ein Talent wie Puskás im linken Fuß zu haben.“
Sein Geburtsname war Ferdinand Kaltenbrunner, ein Sohn deutschstämmiger Banatschwaben, die nach dem ersten Weltkrieg und den Verträgen von Versailles aus dem Banat, heute Rumänien, emigrieren mußten. Sie gingen nach Budapest. Bald wurden ihre deutschen Namen auf politischen Druck magyarisiert, wie Sandor Kocsis (Alexander Wagner) und Ferenc Puskas (Franz Purzfeld). Und aus dem jungen Ferdinand wurde ein Nandor und aus Kaltenbrunner ein hideg (kalt) und kut (brunnen), ein Hidegkuti. Verrückte Zeiten.
Das Jahrhundertspiel England-Ungarn (3:6) am 25. November 1953 machte ihn zu einem der Unsterblichen und seine Mannschaft zur Weltsensation. Hidegkuti, so schrieb die „London Times“, sei „ein noch größerer Zauberer als Puskás, weil er ein Füllhorn teuflischer taktischer Tricks auf Lager hat.“ Der „Alte“ erzielte drei Tore hintereinander und führte den Typ des englischen Sturmtanks ad absurdum. Nominell zwar Sturmspitze, spielte er eine taktische Rolle als „wandernder Mittelstürmer“. So charakterisierte ihn die englische Presse. Er zog die Fäden beim Spielaufbau und überließ den Halbstürmern Kocsis und Puskás, die auf gleicher Höhe mit den Flügelstürmern operierten, das Spielen in der Spitze. Der englische Stopper Johnston, eigentlich sein Gegenspieler, blickte nicht mehr durch. Sollte er Hidegkuti ins Mittelfeld folgen oder seine Position halten? Er entschied sich, zu verharren, deckte aber auch keinen anderen Gegner und wartete. Das Unheil nahm seinen Lauf.
Billy Wright, 105-facher englischer Nationalspieler und in diesem Spiel auf Puskás angesetzt, erlebte hautnah und hilflos, wie die Ungarn eines der schönsten Tore des modernen Fußballs herausspielten: Sándor Kocsis, den die Engländer für den Halbrechten hielten, der aber wie ein Mittelstürmer spielte, nahm weit hinten den Ball vom vermeintlichen Mittelstürmer Hidegkuti auf, schickte den Linksaußen Czibor über den rechten Flügel, der passte zu Puskás, dem Halblinken, auf die rechte Strafraumseite. Puskás zog den Ball mit der Sohle nach hinten, der überforderte Billy Wright rutschte ins Leere und mit einer Drehbewegung um die eigene Achse jagte Puskás den Ball ins Netz. Die „magischen Magyaren“ hatten das alte, starre englische WM-System (3-2-2-3) taktisch pulverisiert. Die Fußballbastion England war geschleift! Hidegkutis hängende Position bildete die Grundlage im neuen 4-2-4-System mit permanenten Rochaden, das die Brasilianer Ende der 50er Jahre perfektionierten.
Das Rückspiel fand im Mai 1954 in Budapest statt. Es war das letzte Länderspiel der Ungarn vor der WM in der Schweiz und endete mit der restlosen Demütigung Englands. In einer erneut grandiosen Partie Hidegkutis wurden die Männer von der Insel mit 7:1 geschlagen. Vittorio Pozzo, Trainer Italiens bei seinen WM-Titelgewinnen 1934 und 1938, war Augenzeuge des englischen Waterloos und verkündete der internationalen Presse: „Wir haben den neuen Weltmeister gesehen. Die WM in der Schweiz braucht nicht stattzufinden.“
„Ich möchte, dass er nachts von Ihnen träumt“
Wir wissen, dass es anders kam. Sepp Herbergers Erkenntnis, dass der eigentliche Dreh- und Angelpunkt dieser ungarischen Mannschaft keineswegs Puskás, sondern Hidegkuti sei, bestimmte seine Taktik im WM-Finale 1954 in Bern. „Ich weiß, wie es geht“, hatte er schon 1953 auf der Rückreise aus London zu Jupp Posipal gesagt. Horst Eckel schilderte die taktische Anweisung, die ihm der „Chef “ vor dem Endspiel gab, so: „Der Kopf ist, wie wir wissen, Hidegkuti! Sie, Horst, werden gegen ihn spielen. Sie werden ihm bis aufs Klo folgen. Ich möchte, dass er nachts von Ihnen träumt.“
Der laufstarke Eckel folgte dem nominellen Mittelstürmer, sobald der sich aus dem Angriffszentrum zurückzog, Liebrich übernahm dann Puskás. Das Konzept ging auf.
Das Trauma dieses verlorenen Endspiels hat Ungarn lange begleitet. Die „Goldene Mannschaft“ fiel bald auseinander. Einige Spieler, Puskás, Kocsis, Czibor, blieben 1956 im Westen und feierten, nachdem ihre Sperren abgelaufen waren, in Spanien mit Real Madrid und dem FC Barcelona große Erfolge. Hidegkuti blieb. Das kann auch am Alter gelegen haben, denn er war mittlerweile 34 und wusste, dass ihm wie seinen Sturmkollegen bei einem Wechsel in den Westen eine längere Sperre drohte. „Der Alte“ blieb bei MTK und beendete seine Karriere mit der WM-Teilnahme 1958 in Schweden.
Hidegkuti spielte als Profi zeitlebens bei MTK Budapest. 1958 erwarb er die Trainerlizenz und startete 1960 bei MTK auch seine Trainerlaufbahn. Weitere Stationen waren in Italien der AC Florenz, mit dem er 1961 den Europapokal der Pokalsieger gewann, und der AC Mantua. Ende 1962 kehrte er nach Ungarn zurück und führte den Provinzclub von Györ 1963 zum Titelgewinn. Zum ersten Mal seit 1945 gewann damit eine Mannschaft, die nicht aus Budapest kam, die ungarische Meisterschaft.
Seine Trainerlaufbahn endete im Nahen Osten. Dann kehrte er endgültig in seine Heimat zurück, um beim ungarischen Fußballverband als Inspektor für die erste Liga zu arbeiten und seinen Stammverein MTK Budapest als Talentsichter zu unterstützen.
Hidegkuti überlebte die meisten seiner Mannschaftskameraden aus der großen Zeit des ungarischen Fußballs. Er begründete deren frühen Tod einmal mit den Worten: „Wir waren eine Generation von Spielern, die im Krieg jung waren, hungern mussten und später unter Stress gelebt haben. Das hat das Dasein von vielen verkürzt.“
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