Helmut Rahn

„Helmut, erzähl uns dat Tor!“

Biografie
Geboren am: 16.8.1929 in Essen
Gestorben am: 14.8.2003 in Essen
Grabstätte: Essen-Frohnhausen
Margarethenfriedhof
Margarethenstraße 39
Vom Eingang ca. 50 m geradeaus
zur Friedhofshalle,
dann links ca. 50 m auf der rechten
Seite des Weges
Stationen der Karriere als Fußballer
Position: Rechtsaußen
Vereine: BC Altenessen 1912 (1938-1946)
SC Oelde 1919 (1946-1950)
Sportfreunde Katernberg (1950-1951)
Rot-Weiß Essen (1951-1959)
FC Köln (1959-1961)
SC Enschede (1961-1963)
Meidericher SV (1963-1964)
40 Länderspiele (1951-1960); 21 Tore
WM Teilnehmer 1954, 1958
Weltmeister 1954
Deutscher Meister 1955
Deutscher Pokalsieger 1953

Das Tor war sein Schicksal. Es begleitete ihn zeitlebens. Wie oft musste er es erzählen, meistens auf seinen Touren durch die rauchgeschwängerten Kneipen des Essener Stadtteils Frohnhausen, in dem er, den man „den Boss“ nannte, zu Hause war. Dann hingen die Thekenkumpels wie Durstige an seinen Lippen, sobald er ausholte, um einen der am meisten diskutierten, beschriebenen und interpretierten Momente in der Geschichte der noch jungen Bundesrepublik hautnah zu schildern.

„Der Ottes steigt hoch, der annere und der Lorant. Alle drei wollen mit’m Kopp ran. Keiner kricht’n richtig. Den Lorant streift der Ball anne Stirn vorbei, so eben hatt’n noch berührt. Ich steh’ jenau richtig. Der Ball fällt mich vor die Füße, jenau auf ’m Rechten. Und in die Sekunde wusst’ ich jenau, wat jetz passiert. Die zwei Ungarn, der Lorant und der annere, stürzen auf mich zu. So richtig mit Jewalt. Ich lass’ se kommen und zieh’ dann die Kirsche schnell von’n rechten auf ’n linken Fuß. Und da, Mann, ich seh’ et noch wie heute, hab’ ich dat janze Jelände vor mir. Keine zwanzig Meter von’n Tor weg, inne Position von den Halbrechten, und der Grosics steht akkurat so, dat in seine Ecke Platz is. Ich zieh’ ab mit den linken Fuß, und et jibt so’n richtig gefährlichen Aufsetzer. Und wat dann passiert is, dat wisst ihr ja.“ „Jau, Helmut, jau, Boss“, geht ein Aufschrei durch die Kneipe, wie vor Jahren durchs Wankdorfstadion. Der Wirt wusste schon vorher, was zu tun war: Lokalrunde. Und Helmut Rahn greift zum frischen Pils, setzt es an und sagt vorher noch ganz ruhig: „Ja, so war’s.“

Stefan Zweig’s Erzählungen „Sternstunden der Menschheit“ wurden 1927 veröffentlicht. In seinem Vorwort erklärt er,wie er sich auf die „schicksalsträchtigen Stunden“ konzentriert, „… in denen eine zeitüberdauernde Entscheidung auf ein einziges Datum, auf eine einzige Stunde und oft nur auf eine Minute zusammengedrängt ist“. Am 4. Juli 1954 im Berner Wankdorfstadion war es Helmut Rahns Tor zum 3:2 gegen Ungarn in der 84. Minute. Die wahre Gründung der Bundesrepublik Deutschland fand mit dem völlig überraschenden Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft nicht in Bonn, sondern in der Hauptstadt der Schweiz statt.

Irgendwann hatte er genug von den alten Geschichten. Ihm widerstrebte dieser Platz im Rampenlicht, auch schon in den Zeiten seiner großen Triumphe zwischen 1954 und 1958. Er wollte nicht der Held der Nachkriegszeit sein. Wie kaum ein anderes Sportidol kapselte er sich nach der Karriere von der großen Öffentlichkeit ab und sicherte sich eine Existenz als Autohändler und Repräsentant einer Entsorgungsfirma für Bauschutt. Sein Idyll war die Kleingartenanlage Essen-West mit seiner Parzelle 87, bepflanzt mit Strauchtomaten und Apfelbäumen. Der Kontakt zu seinen ehemaligen Mitspielern brach ab bis auf den zu Fritz Walter, seinem Zimmerkollegen von Spiez.

Dabei ging ihm ein ganz anderer Ruf als der eines Eremiten voraus, schon lange vor der nationalen Hysterie rund um den Gewinn des WM-Titels 1954. Außerhalb des Spielfeldes galt er als sprunghaft, unberechenbar, ja anarchisch. Sein Lebensstil war durchaus nicht im Sinne Sepp Herbergers, der aber vor den fußballerischen Qualitäten und dem Charme Helmut Rahns kapitulieren musste: „An Helmut habe ich einen Narren gefressen.“

Helmut Rahn erzielt den Siegtreffer zum 3:2 für Deutschland in der Minute des WM-Endspiels 1954 gegen Ungarn im Wankdorfstadion, Bern/Schweiz.

Mit seinem psychologischen Instinkt gelang es Herberger, die diametralen Persönlichkeiten Fritz Walter und Helmut Rahn zu kongenialen Partnern zu machen. Fritz sollte den unberechenbaren Helmut domestizieren, ihn im Spiel steuern. Helmut wiederum diente als Herbergers verlängerter therapeutischer Arm, um den manchmal von Selbstzweifeln und Melancholie heimgesuchten Fritz positiv zu beeinflussen. Rahns brillante Form vor und während der WM 1954 und seine menschliche Bedeutung für das Team hielten Herberger nicht davon ab, Psychospiele mit dem Essener zu betreiben. Die ersten Begegnungen bei der WM bestritt an Rahns Statt der Schalker Berni Klodt als Rechtsaußen, Rahn kam nur beim legendären 3:8-Debakel gegen die Ungarn zum Zug. Aber Herberger wusste, dass er für seine defensive Taktik im anstehenden Viertelfinale gegen die starken Jugoslawen einen Stürmer für schnelle Gegenstöße brauchte. Klodt war der bessere Kombinationsspieler, Rahn der stärkere Konterspieler.

„Er war wie von der Kette“

Gleichwohl ließ Herberger im Zusammenspiel mit Fritz Walter Rahn im Ungewissen, bis Walter dem Druck seines Zimmergenossen nicht mehr standhielt. „Chef, ich halte es mit dem Boss einfach nicht mehr aus. Tag und Nacht kniet er mir auf der Seele: Sag dem Chef, er soll mich aufstellen. Dem Beara [der Torhüter der Jugoslawen, Anm. des Autors] habe ich in allen Spielen, die ich gegen ihn gemacht habe, immer mindestens einen Ball reingehauen. Ich fetze ihm auch diesmal einen rein.“ Als er dann spielen durfte, war er in Herbergers Diktion „wie von der Kette“ und machte das entscheidende 2:0, ein wichtiger Sieg auf dem Weg zum „Wunder von Bern“. Rahn war unersetzlich geworden.

Seine große Zeit hatte 1951 begonnen, als er von den Sportfreunden Katernberg für die damals sehr hohe Ablöse von 7.000 Mark zu Rot-Weiß Essen wechselte, obwohl die Ruhrgebietslegende Fritz Szepan alles versuchte, Rahn für Schalke 04 zu verpflichten. Aber in dem Essener Präsidenten Georg Melches hatte er einen gleichwertigen Rivalen, der das Rennen um den Ausnahmestürmer machte. 1954 kamen Szepan und Rahn dann doch zusammen: Szepan wurde Trainer bei Rot-Weiß Essen, und im Folgejahr der WM gewannen beide mit einer damals exzellent besetzten Essener Mannschaft die Deutsche Meisterschaft mit einem 4:3 gegen die Mannschaft Fritz Walters, den 1. FC Kaiserslautern.

Grabstätte von Helmut Rahn:
Essen-Frohnhausen Margarethenfriedhof Margarethenstraße 39 Vom Eingang ca. 50 m geradeaus zur Friedhofshalle, dann links ca. 50 m auf der rechten Seite des Weges.

In den Jahren nach der WM war Rahn natürlich eine Attraktion auf Deutschlands und Europas Fußballplätzen. Da er sein spielerisches Niveau halten konnte, trotz mancher Eskapaden, die meistens auf sein geliebtes Pils zurückzuführen waren, berief ihn Herberger wieder in den Kader für die WM 1958 in Schweden. Abermals spielte er eine hervorragende WM, bei der er einschließlich des Spiels um den dritten Platz gegen Frankreich wieder die entscheidenden Tore schoss: insgesamt sechs, so viele wie Pelé.

Nach dieser WM hätte er seine großartige Karriere beenden sollen. Er tat es nicht, sondern folgte den Lockungen seines Mitspielers Hans Schäfer und wechselte 1959 zum 1. FC Köln. Ab 1961 spielte er für zwei Jahre in der holländischen Liga beim SC Enschede, und für die erste Bundesligasaison 1963/64 unterschrieb er noch einen Vertrag beim Meidericher SV. Mit seinen nunmehr 35 Jahren hatte Helmut Rahn großen Anteil daran, dass der als Abstiegskandidat gehandelte Verein aus einem Duisburger Stadtteil deutscher Vizemeister wurde – und er ging in die Bundesligageschichte als der Spieler ein, der als erster vom Platz gestellt wurde.

Ein Achillessehnenriss beendete 1964 die große Fußballkarriere des Helmut Rahn. Danach zog er sich aus der Öffentlichkeit zurück. Im Oktober 2003 trat er nochmals in das Rampenlicht der Öffentlichkeit, aber nur im Kino. In seiner Heimatstadt Essen, in der traditionsreichen Lichtburg, feierte Sönke Wortmanns Film „Das Wunder von Bern“ Premiere, in dem Helmut Rahn ein Denkmal gesetzt wurde. Aber bereits sechs Wochen vorher war der Mann, dessen Tor Geschichte geschrieben hatte, nach langer, schwerer Krankheit verstorben.

Rudi Völler sagte, nachdem ihm der Film in einer privaten Vorabaufführung gezeigt worden war: „Ich bin sehr bestürzt. Gestern war ich in Frankfurt mit Sönke Wortmann und habe den Film ,Das Wunder von Bern’ gesehen. Wir haben nachher zusammengesessen und darüber diskutiert, wie wir Helmut Rahn im Oktober zur Premiere aus seinem Haus locken können.“

Der Tod kam ihnen zuvor, doch wahrscheinlich wäre der „Boss“ sowieso nicht gekommen. Warum auch? Er hatte doch schon lange vorher mit dieser Geschichte endgültig abgeschlossen.

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