Werner Liebrich
Der Eisenfuß
Bei einem Besuch des Kaiserslauterer Hauptfriedhofs findet der Suchende im „Sektor Kiefernhain“ innerhalb eines Radius von fünfzig Metern die letzten Ruhestätten von Fritz Walter, Werner Liebrich und Werner Kohlmeyer. Die drei Weltmeister von 1954 liegen so nahe beieinander, dass sie sich unterhalten könnten. Aber Lage und Erscheinungsbild der drei Grabstätten drücken gewaltige Distanz aus und symbolisieren, wie unterschiedlich die Lebensläufe einstiger Helden sein können.
Alles wird überstrahlt vom blumengeschmückten großen Grab Fritz Walters und seiner Frau Italia, Bilder und Gedenktafeln erinnern an den größten Sohn der Stadt. Unweit davon, eher versteckt, findet der Besucher das unscheinbare Familiengrab der Liebrichs. Hinter zwei Buchsbäumchen taucht erst bei genauerem Hinsehen die Inschrift „Werner Liebrich“ mit Geburts- und Todestag auf, jenes Mannes, der als „Weltstopper“ 1954 die internationale Fußballwelt beeindruckte, weil er wie eine Art Vorläufer des Libero die deutsche Abwehr organisierte, die „Seitengrätsche“ zu einem Begriff im internationalen Fußball machte und aufgrund seiner Härte und physischen Präsenz den gegnerischen Stürmern enormen Respekt einflößte. Puskás wusste ein Lied davon zu singen.
Wenn der Besucher dann nach links schaut, wären es nur ein paar Meter zum Grab von Werner Kohlmeyer, aber er würde es nicht finden. Denn Kohlmeyer, der 1974 als erster der Weltmeister verstarb, geriet bald in Vergessenheit, und in den 80er Jahren wurde sein ehemaliges Grab aufgelassen. Ohne Hinweis auf seine Person teilt er das Grab mit einer 1991 verstorbenen Frau.
Werner Liebrich wuchs im „Kottenviertel“ auf, einem klassischen Arbeiterstadtteil Kaiserslauterns. Sein Vater Ernst Liebrich war Gipser und Stuckateur, aber auch Mitglied der Kommunistischen Partei, was nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 zu einer lebensgefährlichen Sache wurde. Er war aktiv an dem Versuch beteiligt, die KPD in Kaiserslautern trotz Verbot zu organisieren, was ihm einen Prozess wegen Hochverrats einbrachte. Vater Liebrich wurde zu zwei Jahren Haft verurteilt, die er in München und Nürnberg verbüßte.
Die Mutter musste die zwei Söhne Ernst und Werner alleine durchbringen, und man braucht nicht allzu viel Phantasie, um sich auszumalen, was es für den jungen Werner bedeutete, als Sohn eines politischen Häftlings aufzuwachsen. Das prägte seine Mentalität, denn nicht nur das Haar wurde rotblond, rot war auch seine spätere Einstellung zu politischen Themen, die er als aktives SPD-Mitglied im Stadtrat von Kaiserslautern engagiert vertrat.
Die Familie überlebte Krieg und Nationalsozialismus, danach aber bestimmte der Fußball das tägliche Leben der Arbeiterfamilie. Werner Liebrich und sein drei Jahre älterer Bruder Ernst bestritten am 13. Januar 1946 mit dem 1. FC Kaiserslautern dessen erstes Spiel in der neugegründeten Oberliga Südwest und schufen mit den Brüdern Ottmar und Fritz Walter die Basis für den Ruhm des Clubs vom Betzenberg, der mindestens bis 1955 den besten und erfolgreichsten Fußball in Deutschland spielte und mit fünf Spielern das Korsett der Weltmeistermannschaft von 1954 bildete.
„Liebrich, wenn wir dich nicht hätten“
Aber Liebrichs Chancen, in der Schweiz zu spielen, waren zunächst gering. Denn Herbergers Abwehr stand bereits. Erich Retter vom VfB Stuttgart war als rechter Verteidiger gesetzt, sein Pendant links war Kohlmeyer, und für die Stopperposition kam nur Posipal in Frage. Dann verletzte sich Retter im letzten Vorbereitungsspiel gegen die Schweiz acht Wochen vor Beginn der WM so schwer am Meniskus, dass er für einige Monate ausfiel. Herberger sah sich anfangs zu permanenten Rochaden in der Abwehr gezwungen: Im ersten Spiel der WM gegen die Türkei (4:1) nahm Laband die Position von Retter ein, gegen die Ungarn (3:8) durfte Liebrich ran und zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass er bei einem nicht geahndeten Foul das Sprunggelenk von Puskás so malträtierte, dass der erst zum Finale wieder auf die Beine kam. „Die Welt“ schrieb wenig nationalistisch: „Ohne Notwendigkeit rächte er sich an Puskás. Er rächte sich einfach dafür, dass dieser großartige Spieler der bessere Mann war. Diesen Liebrich sollte man nie wieder in eine Nationalelf stellen.“
Die Journalisten der „Welt“ wussten nicht, was auf dem Weg der beiden Mannschaften in die Halbzeitpause passiert war. Puskas sagte zu Posipal: „Sag dem Roten, wenn er so weiterspielt, werde ich ihm dauernd die Bälle durch die Beine spielen, diesem Grobian“. Er sagte es auf ungarisch. Posipal sprach und verstand Ungarisch als im Banat geborener Volksdeutscher. Und übermittelte Werner Liebrich diese demütigende Perspektive in der Halbzeitpause beim Pausentee.
Die Folgen für Ferenc Puskas sind bekannt. Er konnte erst wieder im Endspiel auflaufen und war malträtiert. Das war ein ganz entscheidender Faktor, dass Deutschland das Finale 1954 gewann.
Beim nächsten Spiel gegen die Türkei, das unbedingt gewonnen werden musste, um das Viertelfinale zu erreichen, war Liebrich wieder draußen. Dann aber schlug seine Stunde gegen die starken Jugoslawen (2:0). Posipal war angeschlagen, und für ihn rückte Liebrich ins Zentrum der Defensive. Er spielte so überzeugend, dass Herberger im Halbfinale gegen die favorisierten Österreicher (6:1) Liebrich auf dieser wichtigen Position des Mittelläufers beließ und Posipal anstelle von Laband als rechten Verteidiger nominierte. Wie überzeugend Liebrich erneut auftrat, verdeutlicht ein Auszug aus der Hörfunkreportage des legendären Wiener Reporters Heribert Meisel: „Ocwirk am Ball, will einsetzen den Probst, aber der Probst ist ja bei Liebrich so etwas von aufgehoben, gerade so, als wäre er ein Wickelkind und der Liebrich seine Mutter.“
Auch im Endspiel gelang es Liebrich, sein Niveau zu halten und nicht nur die Abwehr zu dirigieren, sondern seinen wohl nicht ganz wiederhergestellten Kontrahenten Puskás erneut so in Schach zu halten, dass der seine Weltklasse nicht mehr unter Beweis stellen konnte. „Liebrich rettet uns“ und „Liebrich, wenn wir dich nicht hätten“ sind die Sätze, die Reporter Herbert Zimmermann über die Millionen eingeschalteter Radiogeräte in Deutschlands Wohnstuben, Küchen, Kneipen und Autos trug und die für ein Aufatmen bei den gebannten Zuhörern sorgten.
Nach der triumphalen Rückkehr sonnten sich die fünf Kaiserslauterer „Buwe“ im Glanz ihres Erfolges, denn sie hatten die abgelegene Provinzstadt fest auf der Fußball-Landkarte Europas etabliert. Trotz guter Angebote gelang es den Clubverantwortlichen, auch dank Fritz Walter, die Spieler zu halten. Aufgestockte Gehälter und Hilfe beim Schritt in eine zukunftsgerichtete Selbständigkeit erleichterten das Bleiben. So teilte Liebrich im Sommer 1957 „dem geschätzten Publikum die „Neueröffnung einer neuzeitlichen Einkehr-Stätte mit Wein-, Spirituosen-, Tabakwaren- und Zeitschriften-Verkauf mit Toto-Lotto-Annahmestelle“ in der Eisenbahnstraße 48 mit. Liebrich hatte bereits ein Jahr zuvor mit 29 Jahren seine Länderspielkarriere beendet, spielte aber noch bis 1962 für den 1. FC Kaiserslautern in der Oberliga Südwest. Dank der großen Leistungen seiner fünf Weltmeister, die dem Verein alle treu blieben, spielte der Club immer eine starke Rolle, gewann zwischen 1946 und 1963 elfmal den Titel der Oberliga und gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Fußballbundesliga zu Beginn der Saison 1963/64.
Liebrich brachte es dank seiner geschäftlichen Aktivitäten zu bescheidenem Wohlstand und trainierte nebenher Kaiserslauterer Jugend- und Amateurmannschaften. In der Saison 1964/65 übernahm er als Interimscoach acht Spieltage vor Saisonende das Traineramt von Günter Brocker und rettete seinen 1. FC Kaiserslautern noch mit Rang 13 vor dem drohenden Abstieg. In den 80er Jahren machte ihm plötzlich sein Herz zu schaffen und er musste zwei Operationen über sich ergehen lassen. Nach einer dritten Operation 1995 verstarb Werner Liebrich, „de Rot“, wie ihn seine Fans trotz der mittlerweile weißen Haare immer noch nannten.
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