Hugo Meisl und das Wunderteam
Vom Schmieranskiteam zum Wunderteam
Die Geburt des österreichischen „Wunderteams“, das von 1931 bis 1934 spielerische Maßstäbe in Europa setzte, soll am 14. Mai 1931 in einem Wiener Kaffeehaus stattgefunden haben. Hugo Meisl, seit 1912 Teamchef der österreichischen Nationalmannschaft, betritt das Ringcafé am Stubenring, ein von Sportjournalisten häufig frequentiertes Lokal, passiert den Tisch der Sportjournalisten und bleibt unversehens stehen. Dann fallen die Worte, die historisch werden sollen: „So, meine Herren von der Presse! Jetzt habt’ s euer Schmieranski-Team“, und Meisl knallt den Dasitzenden einen Zettel mit der Mannschaftsaufstellung für das bevorstehende Heimspiel gegen die auf dem Kontinent unbesiegten Schotten auf den Tisch. Sprach’ s und verschwand im Taxi Richtung Verbandsheim.
Es war die Aufstellung, die die Wiener Fußballjournalisten, von ihm abfällig als „Schmieranskis“ bezeichnet, seit längerem für die Nationalmannschaft gefordert hatten, die aber Meisls Vorstellung von seinem Idealteam nicht entsprach. Vor allem wehrte er sich vehement dagegen, nochmals den genialen Centerstürmer Sindelar von der Austria zusammen mit dem bewährten Vienna-Centerstürmer Gschweidl zu nominieren, nachdem er bei einem Spiel seiner Österreicher mit dem Innensturm Sindelar/Gschweidl gegen eine offiziell aus Amateuren gebildete süddeutsche Auswahl, im wesentlichen Spieler der SpVgg Fürth, eine demütigende 0:5-Niederlage hatte einstecken müssen. Er machte Sindelar dafür verantwortlich. Sein Schmieranski-Freund Fritz Baar schilderte eine Szene während der Rückfahrt: „Meisl rannte fuchsteufelswild durch den Waggon, um möglichst noch vor Wien seinen allerärgsten Grant loszuwerden. Plötzlich ging ihm der Atem aus, und er schnappte förmlich nach Luft. In die Stille hinein sagte plötzlich Sindelar: ,Ich weiß, wo der Fehler lag! Wissen S’, Herr Hugo (so nannten ihn die Spieler respektvoll), mir haben zu wenig Scheiberln gespielt.’ Meisl blieb die Sprache weg: zu wenig Scheiberln, und das auf tiefem Schneeboden.“ Der Begriff „Scheiberln“ stand in der wienerischen Fußballterminologie für fließendes Kurzpassspiel mit ständigen Positionswechseln.
„Für euch Dribblanskis hab i kan Platz mehr“
Meisl plante also ohne Sindelar, denn „für euch Dribblanskis hab i kan Platz mehr“. Als er irgendwann doch den öffentlichen Forderungen nach Sindelars Berücksichtigung im Spiel gegen Schottland nachkam, ahnte er nicht, dass dieser zu seinem verlängerten Arm auf dem Spielfeld werden sollte. Und dass damit ein genialer Techniker und Stratege die Nationalmannschaft auf eine fast dreijährige Reise mitnahm, die ganz Europa verzückte und dem kleinen Österreich neues Selbstbewusstsein nach dem Untergang der Monarchie geben sollte.
Hugo Meisl wurde im damals österreichischen Maleschau in Mähren als Sohn einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie geboren und kam im Alter von sechs Jahren nach Wien. Schule und Berufsausbildung ließen eine Karriere als Bankbeamter erwarten. Aber seine Liebe zum Fußball, er war schon mit 14 Jahren in den gerade gegründeten Vienna Cricket and Football-Club eingetreten, führte ihn über Stationen als internationaler Referee, Vorstand des Österreichischen Fußball-Bundes (ÖFB) und FIFA-Delegierten zur offiziellen Ernennung als Verbandskapitän der Nationalelf Österreichs.
Meisl debütierte am 22. Dezember 1912 mit einem 3:1-Sieg in Genua gegen Italien. Aber bis zu den großen Erfolgen seiner nationalen Auswahl war es ein langer Weg. Die Grundlagen dafür schuf er, als er nach dem Ersten Weltkrieg seine internationalen Kontakte engagiert einsetzte, um Profiligen zu etablieren. 1924 war es in Österreich so weit, 1925 folgte Ungarn, 1926 die Tschechoslowakei. Zudem war er maßgeblich daran beteiligt, den Mitropa-Cup als eine Art Vorläufer des heutigen Europapokals aufzubauen.
Die Durchsetzung des bezahlten Fußballs in den Ländern der ehemaligen k.u.k. Monarchie führte zu einer enormen Leistungssteigerung vor allem der jeweiligen Hauptstadtvereine. Die Erfolge im internationalen Vergleich mit den Clubs und Nationalmannschaften der Länder, die sich noch dem Amateurgedanken verpflichtet fühlten, u.a. Deutschland, waren beachtlich. Der „Donaufußball“, den die Prager, Budapester und Wiener Mannschaften spielten, war ein Gegenstück zum englisch inspirierten preußisch-deutschen Spiel, bei dem lange Bälle bevorzugt und viel Wert auf Athletik, Ausdauer, Kollektivität und strategische Planung gelegt wurde. Das trilaterale Kulturkarussell hingegen vereinte das direkte Kurzpassspiel der Tschechen mit dem rasanten Flügelspiel der Ungarn und dem betont flachen Zuspiel in Form des Dreiecks, der sogenannten Wiener Schule.
Als Meisls „Schmieranski-Team“ am 16. Mai 1931 in Wien gegen Schottland antrat, stand im Sturm jenes heiß diskutierte Sturmduo. Mittelstürmer Gschweidl operierte als Verbindungsstürmer (heute wäre das ein offensiver Mittelfeldspieler) und Sindelar wie bei der Austria in der Spitze. Die Schotten wurden mit 5:0 auf die Insel zurückgeschickt. Damit begann eine historische Serie Österreichs mit acht Siegen bei einem Torverhältnis von 45:9 in zehn Länderspielen gegen die renommiertesten europäischen Gegner. Ganz Österreich erfasste eine Welle des nationalen Stolzes in Zeiten von Wirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit und politischer Polarisierung auf den Straßen. Selbst die des Chauvinismus unverdächtige kommunistische Arbeiterzeitung schwelgte vom Wunderteam als einem „Dokument wienerischen Schönheitssinnes, wienerischer Phantasie und wienerischer Begeisterung“.
Höhepunkt dieser großartigen Länderspiele, gleichzeitig aber auch die erste Niederlage (mit 3:4) war das legendäre Match am 7. Dezember 1932 gegen England im Londoner Stadion an der Stamford Bridge, das ganz Europa in seinen Bann zog und bis heute als die „glorreichste“ Niederlage der österreichischen Nationalmannschaft gilt. Das Match hielt die Nation in Atem, die Produktion in den Wiener Fabriken ruhte, das Parlament unterbrach seine Sitzung, und auf dem Heldenplatz lauschten Zehntausende einer Direktübertragung des Hörfunks.
Die sechzehn Spieler, die das Gerippe des „Wunderteams“ bildeten, eigentlich eine Wiener Stadtauswahl, vereinten hohe Spielintelligenz, Technik und notwendige Härte, gepaart mit Patriotismus. Sie kamen aus den proletarischen Vierteln der Vielvölkerstadt, in erster Linie aus Favoriten ( X. Bezirk) und Floridsdorf (XXI. Bezirk), und viele repräsentierten ethnische Minderheiten. Im Tor stand „der schöne Rudi“ Hiden, den defensiven Part lieferten Schramseis, Rainer, Smistik, Nausch, Gall, Sesta und Blum. Hier war es vor allem der populäre, gelernte Hufschmied Karl Sesta, der mit beachtlichen Abräumerqualitäten den Zauberern im Mittelfeld und Sturm den notwendigen Rückhalt verschaffte. Die Offensive wurde von Sindelar angeführt und bestand aus den Spielern Gschweidl, Schall, Braun, Mock, Hofmann, und als Flügelzange im 2-3-5-System operierten die schnellen Zischek und Vogl.
Ab 1933 erschwerten die antijüdischen Tendenzen in Deutschland und auch Österreich, die Meisl persönlich betrafen, seine Arbeitsbedingungen. Sie gingen ebenso wenig an der Mannschaft spurlos vorbei. Mit der 0:1-Halbfinalniederlage Österreichs gegen Italien bei der Fußballweltmeisterschaft 1934 in Italien endete die Ära des „Wunderteams“ endgültig. „Herr Hugo“ betreute die österreichische Auswahl zum letzten Mal am 24. Januar 1937 beim 1:0 gegen Frankreich in Paris. Er starb am 17. Februar 1937 im Gebäude des ÖFB an den Folgen eines Herzinfarktes. Sein früher, aber friedlicher Tod erscheint im Lichte dessen, was ihm nach dem Anschluss Österreichs 1938 gedroht hätte, fast wie ein Glück.
Ein kalter Ostwind zerrte an den blattlosen Ästen, als Tausende Trauernde Abschied von Hugo Meisl nahmen. Sein Begräbnis war, ohne dass man es erahnte, der Anfang vom Ende der legendären jüdisch-intellektuellen Kaffeehauskultur Wiens und seiner jüdischen Gemeinde, die in den Folgejahren vertrieben oder vernichtet wurde.
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