Vittorio Pozzo
„Der Erfinder der „Metodo“
Im Jahre 1949 arbeitete die Trainer-Legende Vittorio Pozzo (Weltmeister 1934 und 1938 mit Italien) als „Sportlicher Berater“ für den AC-Torino und als Sport-Kolumnist für die Turiner Zeitung „La Stampa“. Die journalistische Tätigkeit hätte ihn fast das Leben gekostet. Er sollte die Mannschaft des AC-Torino am 2. Mai 1949 zu einem Freundschaftsspiel bei Benfica Lissabon begleiten. Aufgrund der begrenzten Sitzplatzkapazität des Flugzeuges verzichtete Pozzo auf den Mitflug. Beim Rückflug kam es am 4. Mai 1949 zur „Tragödie von Superga“. Das Flugzeug mit allen Spielern an Bord (18) zerschellte beim Landeanflug an der Basilika von Superga, die hoch über Turin von weitem als Wahrzeichen der Stadt am Po zu sehen ist. (Siehe Einzelporträt AC Torino und die Tragödie von Superga).
Pozzo übernahm die tragisch anmutende Aufgabe, die sterblichen Überreste der „Granata“ zu identifizieren. Es waren seine „Jungs“, die die Meistermannschaft des AC-Torino und fast die komplette italienische Nationalmannschaft bildeten. Er hatte die italienische Auswahl noch einige Wochen zuvor trainiert bei der Vorbereitung auf die anstehende Fußball-WM 1950 in Brasilien. Italien war Titelverteidiger und damit schon qualifiziert. Der italienische Journalist Porotti beschrieb erschüttert die Qualen des legendären Mannes. „Was mag in Pozzo vorgegangen sein, als er seine geliebten Spieler vor sich liegen sah? Hatte er nicht alle groß und berühmt gemacht. Ein erschütterndes Zeugnis menschlicher Vergänglichkeit. Der traurige Auftrag ist bald erfüllt. Pozzo tritt in die Nacht. Der Wärter des Leichenhauses erzählte am nächsten Tag, er habe einen kleinen Mann mit weißem Haar lange Zeit an der Mauer der Einschlagsstelle lehnen sehen. Barhäuptig, ungeachtet des Regens, vom trockenen Schluchzen geschüttelt. Er habe nicht weiter darauf geachtet, denn in jener Nacht weinten so viele in Turin. Gewiss, es könnte Pozzo gewesen sein. Es war Pozzo!“ Der AC-Torino war dessen Kokon als Gründungsmitglied, Spieler, Trainer und Bestatter.
Zwei Mal, 1934 und 1938, führte er als Trainer Italien zum Titel des Weltmeisters. Sein Besuch der WM 1930 in Uruguay brachte ihm zwei wichtige Erkenntnisse. Erstens entwickelte er sein künftiges Spielsystem, die „Metodo“, ein sehr flexibel verwendbares 2-3-2-3, eine Grundvariante, die von den Standard-Angriffsformationen der Engländer oder Südamerikaner abwich und mehr Flexibilität bei der Wahl der Spielstrategien ermöglichte. Die zweite Erkenntnis war, dass die beiden Finalgegner Uruguay und Argentinien vor allem die noch italienisch sprechende Community an den Ufern des Rio de la Plata repräsentierten. Viele dieser herausragenden Spieler waren die Söhne oder Enkel der fast drei Millionen italienischer Einwanderer, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts nach Argentinien und Uruguay emigrierten. Das sollte noch bedeutsam für Italiens Fußball des 20. Jahrhunderts werden.
Der kleine Piemontese Vittorio Pozzo gehört zu den Gründervätern des modernen europäischen Fußballspiels, wie seine kongenialen Kollegen Herbert Chapman (England) und der Österreicher Hugo Meisl (siehe Einzelporträt). Während Chapman in London und Meisl in Wien die Straßenbahn benutzen konnten, um ihre Spieler zu beobachten, war Pozzo auf die Eisenbahn angewiesen, um in Neapel, Rom, Florenz oder Turin und Mailand Spieler zu scouten und Talente wie Guiseppe Meazza zu finden.
Die Strategen Pozzo, Chapman und Meisl waren die bestimmenden Nationaltrainer der 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts in Europa. Beispielhaft waren und sind das in der jüngeren und heutigen Zeit des Fußballs Vereinstrainer wie Rinus Michels, Arrigo Sacchi, Arsene Wenger oder Jürgen Klopp und Pep Guardiola.
Unter Pozzo (ab 1929) entwickelte der italienische Fußball eine Spielkultur, die ihm in der Folge immer wieder internationalen Erfolg bescherte. Die Verbindung ballfühlender Eleganz mit ruppigster Direktheit. Die italienischen Mannschaften, seien es die „Squadra“ oder die Vereine konnten treten wie ein Pferd und tänzeln wie eine Ballerina. Dazu kam eine bis heute bemerkenswerte taktische Disziplin, eigentlich ungewohnt bei heißblütigen Neapolitanern, Römern, Lombarden, Argentiniern oder „Urus“. Auch die Effizienz war stets Teil der „Italianita“. Man „ernudelte“ sich ein 1:0. Die Inkarnation in der Nachfolge von Vittorio Pozzo war Helenio Herrera mit Inter Mailand, dem Erfinder des Catenaccio. (siehe Einzelporträt).
Die WM 1934 in Italien brachte für für den jungen Nationaltrainer Vittorio Pozzo einen hohen Erfolgsdruck. Die bekannt zurückhaltenden Sportzeitungen Italiens übermittelten in ihren Schlagzeilen Mussolinis Option, Trainer und Spieler hätten bei diesem Heimturnier „zu siegen oder zu sterben“. Das konnte zu Versagensängsten führen. Nicht bei Pozzo.
Die WM 1934 in Italien war schmutzig. Der italienische Verband fand unfaire Mittel und Wege, Weltmeister zu werden. Die Bedingungen waren hervorragend für dieses Turnier. Dafür hatte der faschistische Diktator Benito Mussolini gesorgt. Neue Stadien und die schnelle Einbürgerung fußballerisch begabter Söhne oder Enkel italienischstämmiger Auswanderer in den südamerikanischen Kontinent.
Die Kritik an der schnellen Verleihung der italienischen Staatsbürgerschaft an diese Stars aus Südamerika (Oriundi genannt) konterte Pozzo: „Wenn sie für Italien sterben dürften (als Soldaten), können sie auch Fußball für Italien spielen. “Das taten dann auch Atilio Jose de Maria, Raimundo Orsi und Enrique Guaita, die Vize-Weltmeister von 1930 aus Argentinien. Pozzo gelang es, aus Spielern unterschiedlichster Couleur ein schlagkräftiges Team zusammen zu schweißen, um Weltmeister zu werden. Er wusste, das werden danach keine Männerfreundschaften.
Dabei waren ihm alle Mittel recht. Drei Wochen vor der Nominierung seines geplanten Kaders für die bevorstehende WM tauchte Pozzo im April 1934 in einer schäbigen römischen Kneipe auf. Er brauchte Attilio Ferraris, den knallharten Mittelfeldspieler, der im März aus disziplinarischen Gründen vom AS Rom entlassen worden war und seit 18 Monaten kein Länderspiel mehr bestritten hatte. Attilio neigte jetzt mehr dem Alkohol, dem Glücksspiel und den Frauen zu, als gegnerische Stürmer am Durchbruch zu hindern. Pozzo: „Lassen Sie ihre Zigaretten, den Wein und ihren Billardqueue sofort stehen, kommen Sie mit mir und Sie haben die Chance, bei der WM zu spielen“. Ferraris tauchte wenige Tage später im Trainingslager am Lago Maggiore auf.
Pozzo gelang es, Luis Monti und Angelo Schiavio zusammen zu bringen, die sich in der Seria A Duelle lieferten, dass „Amnesty International“ eingeschritten wäre, wenn es die Organisation damals schon gegeben hätte. Das war das Ergebnis der großen Kunst dieses Fußballpädagogen und -Strategen. Im Trainingslager wohnten Monti und Schiavio im gleichen Zimmer.
Italien wurde am 10. Juni 1934 im“ Stadio Nazionale del Partito Fascista“ in Rom durch ein 2:1 n.V. gegen die Tschechoslowakei Weltmeister, aber ein ungerechter Weltmeister. Deutschland, Österreich und die Tschechoslowakei waren die besten der teilnehmenden Teams. Uruguay hatte als Vergeltung für den Mangel an europäischer Präsenz vier Jahre zuvor gar nicht gemeldet und wurde der erste „No-Show“ Weltmeister in der Geschichte. Das Mutterland des Fußballs, England, negierte bis 1950 „this strange event“. Unwürdig für Albion, daran teilzunehmen. 1938 bekamen die Franzosen das gleiche zu spüren. England nahm in seiner fußballerischen Hybris nicht teil. Erst bei der WM in Brasilien 1950 legten die Engländer ihr arrogantes Gehabe ab, verloren in der Vorrunde gegen die USA mit 0:1 und mussten heimreisen. Welche Schmach, und das noch gegen die ehemalige Kolonie. Die Medien hatten zuvor in England einen Schreibfehler vermutet. Es war doch ein 11:0 gegen die Abtrünnigen nach der Boston Tea Party am 17. Dezember 1773. Das Empire ging dahin.
Dies alles schmälert die Leistung von Vittorio Pozzo angesichts der hohen Erwartungshaltung im eigenen Land nicht. Dieser permanente von der Politik und den Medien ausgeübte Erfolgsdruck und die Integration der südamerikanischen Spieler machten ihm das Leben schwer. Aber dann führte er die Mannschaft in den Folgejahren an die Weltspitze.
Zwischen 1934 und 1938 galt es noch, Olympiasieger beim Fußballturnier der Olympischen Spiele in Berlin 1936 zu werden, obwohl Deutschland mit seiner starken Mannschaft von der Nazi-Propaganda dafür vorgesehen war. Aber Italien triumphierte. Im Endspiel gewann die „Squadra Azzurra“ im Olympiastadion vor 85.000 Zuschauern mit 2:1 n.V. gegen Österreich. Die deutsche Nationalmannschaft war in Anwesenheit von Adolf Hitler sehr enttäuschend im Achtelfinale gegen Norwegen mit 0:2 ausgeschieden. Die propagandistischen Früchte erntete Mussolini. Und Vittorio Pozzo wurde allmählich zum Nationalhelden.
Von nun an wollte er der Fußballwelt zeigen, dass Italien 1934 zwar dank möglichweise dunkler Mächte Weltmeister geworden war, jetzt aber verdientermaßen an der Spitze stand. Berlin war das erste Zeichen. Seit 1935 hatte Italien kein Spiel mehr verloren. Nun galt es, in Frankreich 1938 den WM-Titel mit einem Team rund um Guiseppe Meazza (siehe Einzelporträt) zu verteidigen. Der zweite Weltkrieg warf schon seine Schatten voraus, innerhalb dessen Pozzo die Titelverteidigung anging. Doch nun traf seine Mannschaft auf neue Mächte. Zunächst auf eine politisch aufgeladene Atmosphäre in ganz Europa und eine feindselige französische Öffentlichkeit gegenüber Italien. In Frankreich regierten die Sozialisten, in Italien die Faschisten. Die möglichen Gegner waren in ihrer Spielstärke keine sehr große Herausforderung. Alle Südamerikaner (bis auf Brasilien) hatten wegen Querelen bei der WM-Vergabe 1938 nach Frankreich (nach den Vereinbarungen innerhalb der FIFA sollte es eine Rotation zwischen Europa und Südamerika geben und Argentinien hatte sich beworben) zurückgezogen. In Spanien herrschte Bürgerkrieg.
Die Diktatoren Mussolini und Hitler wollten unbedingt den Sieg für ihr Land. Mussolini machte es sich wieder einfach: „siegen oder sterben“. Deutschland und Österreich nahmen sich selbst aus dem Spiel. Hitler befahl nach der Annexion Österreichs im März 1938 die Fusion der beiden Nationalteams, die von der Qualität her beide WM-Mitfavoriten waren. Reichssportführer Tschammer-Osten: „Der Führer will eine Mannschaft mit der Aufstellung Sechs aus Deutschland, Fünf aus Österreich“. Das war Wiener Walzer gepaart mit preußischer Marschmusik. und verursachte dem neuen Reichstrainer Sepp Herberger eine musikalische Schieflage mit Ohrenschmerzen. Es konnte nicht gut gehen. Endergebnis: „Großdeutschland“ flog gleich gegen die Schweiz raus. Italien stieß mit sehr ansehnlichem Spiel über Norwegen (Achtelfinale), Frankreich (Viertelfinale) und Brasilien (Halbfinale) ins Finale am 19. Juni 1938 im Stade de Colombes in Paris. Von den Weltmeistern von 1934 waren nur noch Guiseppe Meazza und Giovanni Ferrari dabei. Ein überragender Meazza führte die „Squadra Azzurra“ zum Titel gegen Ungarn (4:2). Italien gewann völlig verdient und hatte den WM-Titel verteidigt. Der ungarische Torwart Szabo ließ nach dem verlorenen Endspiel verlauten: „Ich war noch nie so stolz wie jetzt. Wir haben elf Menschen das Leben gerettet“. Und das von Vittorio Pozzo.
Oben v.L. Amadeo Biavati, Vittorio Pozzo mit dem „Coup Jules Rimet“, Silvio Piola, Giovanni Ferrari, Gino Colaussi; Unten v.L. Ugo Locatelli, Guiseppe Meazza, Alfredo Foni, vorne Pietro Serantoni, Aldo Olivieri, Pietro Rava, Michele Andreolo
Die Erfolgsserie der „Squadra Azzurra“ ging weiter. Das Team von Pozzo blieb bis 1939 in dreißig Spielen ungeschlagen. Erst unter Trainer Roberto Mancini egalisierte eine italienische National-Mannschaft 2021 diesen Rekord, rund 82 Jahre später.
Für das geplante WM-Turnier 1942 in Deutschland versprach Pozzo die erneute Weltmeisterschaft. Dann würde der „Coupe Jules Rimet “ (35 cm hoch, aus 3,8 Kilogramm vergoldetem Sterlingsilber bestehend und mit einem blauen Sockel aus Lapislazuli versehen) endgültig in Italien verbleiben. Ob Mussolini sich vorher getraut hätte, erneut „siegen oder sterben“ in das Mannschaftsquartier zu telegrafieren darf bezweifelt werden. Sein deutscher Kollege in Berlin hätte ihm wohl die erste Strophe der Deutschland-Hymne entgegengeschmettert. Der zweite Weltkrieg zerstörte all diese Träume. Am 19. April 1942 fand das letzte Länderspiel Italiens im Kriege statt und endete mit einem 4:0 gegen Spanien.
Nach dem Zweiten Weltkrieg berief der italienische Fußballverband Pozzo erneut zum Nationaltrainer. Wie sein deutscher Kollege Sepp Herberger, der vom Reichstrainer zum Bundestrainer wurde, musste Pozzo eine gänzlich neue Nationalmannschaft aufbauen. Am 11.11.1945 fand das erste Länderspiel Italiens nach dem Kriege statt. Es endete 4:4 in Zürich gegen die Schweiz. Herberger musste fünf Jahre länger bis zum ersten Länderspiel Deutschlands (BRD) am 22. November 1950 gegen die Schweiz in Stuttgart (1:0) warten. Der Doppelweltmeister Pozzo setzte nun auf die jungen Himmelsstürmer des AC-Torino rund um ihren Kapitän Valentino Mazzola. Am 11. Mai 1947, beim Länderspiel Italien gegen Ungarn in Turin (3:2) kamen alle elf Spieler aus Turin, zehn vom AC-Torino nebst Torwart Lucidio Sentimenti, der bei Juventus Turin spielte. Wahrscheinlich war Stammtorwart Valerio Bacigalupo vom AC-Torino verletzt. Pozzo baute eine Mannschaft auf, die eindeutig zu den Favoriten für das WM-Turnier 1950 in Brasilien gehörte und die als Titelverteidiger bereits qualifiziert war. Der dritte Gewinn des „Coupe Jules Rimet“ war wieder in Reichweite. „Doch mit des Geschickes Mächten ist kein ew’ger Bund zu flechten. Und das Unglück schreitet schnell“. (Schiller) Die „Tragödie von Superga“ löschte diese Mannschaft aus. Italien stand ein Jahr vor der WM praktisch vor dem Nichts und es musste wieder eine neue „Squadra“ aufgebaut werden. Vittorio Pozzo hatte nicht mehr die psychische Kraft, diese Aufgabe zu übernehmen und übergab an seinen Nachfolger Ferruccio Novo. In den Folgejahren spielte die „Squadra“ bei Weltmeisterschaften keine große Rolle mehr.
Seit 1974 ist der „Coupe Jules Rimet“ ein etwas größerer Wanderpokal, denn anstelle Italiens gewann Brasilien als erste Mannschaft dreimal die WM, 1970 übrigens gegen Italien in Mexico (4:1). Nach dem Finale ging Pozzos „Objekt der Begierde“ endgültig in den Besitz Brasiliens über, was der Trophäe aber nicht gut bekam. Am 19. Dezember 1983 wurde sie in Rio de Janeiro aus einer Verbandsvitrine gestohlen, wohl eingeschmolzen und anderen Zwecken zugeführt. Vittorio Pozzo hat das nicht mehr erlebt. Er hält noch heute den Rekord, als einziger Trainer den WM-Titel verteidigt zu haben. Didier Deschamps war nahe dran, diese Leistung mit der „Equipe Trikolore“ in Russland (2018) und Katar (2022) zu egalisieren.