Otto Fritz „Tull“ Harder
Vom Volkshelden zum Kriegsverbrecher
Anfang des Jahres 1940 wurde auf Anordnung des Reichsführers SS, Heinrich Himmler, aus Neuengamme im Südosten Hamburgs, das seit 1938 ein Außenlager des KZ Sachsenhausen war, ein selbständiges Konzentrationslager. Vorgesehen war, die KZ-Häftlinge in Rüstungsfirmen und für Bauvorhaben in Nordwestdeutschland einzusetzen. Die Botschaft war klar: Mit Terror und möglichst geringem Kosteneinsatz sollte aus den Internierten unter mörderischen Lebens- und Arbeitsbedingungen ein Maximum an Arbeitsleistung herausgepresst werden.
In diesem KZ Neuengamme war seit November 1939 der frühere Hamburger Nationalspieler Tull Harder als SS-Rottenführer (was in der regulären Armee dem Rang eines Obergefreiten entsprach) tätig, zunächst als Wachtposten, dann in der Lagerverwaltung. Am 30. November 1944 übernahm Harder, mittlerweile zum SS-Hauptscharführer (Oberfeldwebel) befördert, die Leitung des Außenlagers Ahlem bei Hannover als Chef einer 60-köpfigen SS-Wachkompanie. Seine nationalsozialistische Karriere endete als Untersturmführer (Leutnant) im Mai 1945. Drei Monate zuvor war er als Lagerführer in das Außenlager Uelzen abkommandiert worden.
In der Nacht vom 14. zum 15. April 1945 begann der Angriff britischer Bodentruppen auf Uelzen. Um die Spuren des Lagers zu beseitigen, wurde es unter Harders Führung am 16. oder 17. April geräumt. Die Häftlinge wurden in das Stammlager Neuengamme verlegt, das britische Truppen am 2. Mai einnahmen. Die Schreckensbilanz dieser Todesfabrik wurde bald öffentlich: In Neuengamme und seinen 85 Außenlagern waren von 1938 bis 1945 über 100.000 Menschen inhaftiert, von denen mindestens 42.900 ums Leben kamen. Mehrere tausend Häftlinge verstarben noch nach der Befreiung an den Folgen der unmenschlichen Behandlung im Konzentrationslager.
Tull Harder wurde im Mai 1945 von britischen Soldaten festgenommen und in das Internierungslager Iserbrook gebracht. Wegen gesundheitlicher Probleme kam er zwischenzeitlich auf freien Fuß, wurde aber erneut verhaftet. Am 16. April 1947 begann im Hamburger Curio-Haus am Rothenbaum der Militärgerichtsprozess gegen ihn und vier weitere SS-Angehörige. Die Anklage lautete auf Begehen von Kriegsverbrechen, insbesondere Beteiligung an der Ermordung und Misshandlung von Inhaftierten. Am 6. Mai 1947 sprach das Militärgericht Otto Fritz Harder schuldig und verurteilte ihn zu 15 Jahren Haft, die später auf zehn Jahre ermäßigt wurde. Zwei seiner mitangeklagten Untergebenen aus dem KZ Ahlem wurden im gleichen Prozess zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Aus dem Volkshelden war ein Kriegverbrecher geworden, der seine Haft im Zuchthaus Werl bei Dortmund verbrachte. Kurz vor Weihnachten 1951 ordneten die britischen Militärbehörden seine vorzeitige Entlassung an. Tull Harder kehrte nach Norddeutschland zurück, wo er als Versicherungsvertreter in Bendestorf am Rande der Lüneburger Heide bis zu seinem Tod lebte.
„Wenn spielt der Harder Tull, dann wird es drei zu null“
Was war das für ein Mensch, der den HSV in den 20er Jahren zu zwei Deutschen Meisterschaften führte, in 15 Länderspielen für Deutschland 14 Tore erzielte und über den der „Kicker“ 1939 schrieb: „Ein Volksliebling war er. Wenn er mit dem Ball am Fuß über das Feld raste, dann rasten die Massen im Norden, im Westen, im Süden, im Osten.“ Und die Fans des Hamburger SV skandierten im simplen Sprachstil jener Jahre: „Wenn spielt der Harder Tull, dann wird es drei zu null.“ Seinen Spitznamen Tull verdankte er dem ersten schwarzen Feldspieler des britischen Profifußballs, Walter Daniel Tull von Tottenham Hotspur, der mit seinen „Spurs“ 1910 ein Gastspiel bei Harders Club Eintracht Braunschweig bestritten hatte. Tulls Spielweise und Statur ähnelte der von Harder.
Sein erstes Länderspiel bestritt er am 5. April 1914 beim 4:4 gegen die Niederlande, wobei er gleich sein erstes Länderspieltor erzielte. Vier Monate später wurde seine Karriere durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges jäh unterbrochen. Harder meldete sich im Januar 1915 freiwillig zum Militär. Er wird als tapferer Soldat beschrieben, der mehrfach verwundet wurde und dem man im Verlauf des Massensterbens an der Westfront das Eiserne Kreuz erster und zweiter Klasse verlieh. Harder war ein „Frontschwein“, das sich in den Schützengräben bewährte, militärische Tugenden und Umgangsformen schätzte und sich als rauchender, trinkfester Kamerad großer Beliebtheit erfreute.
Nach Kriegsende, mittlerweile 26 Jahre alt, begann der zweite, nicht minder erfolgreiche Teil seiner fußballerischen Karriere, nunmehr beim Hamburger SV, der sich 1919 aus dem Zusammenschluss von Hamburger FC 88, SC Germania von 1887 und FC Falke 1906 konstituiert hatte. Harder beeindruckte mit seiner enormen Physis. Die zeitgenössische Sportpresse beschrieb ihn als „Leben gewordenen Torschuss“, als Brecher, Prellbock und Möbelpacker, der Wucht und Stoßkraft verkörperte und dank enormer Schnelligkeit und Technik einen Offensivdrang zeigte, der die Abwehrspieler erschreckte. Es war nur logisch, dass in jener Zeit martialischen Gehabes und Sprachgebrauches Tull Harder chauvinistische und rassistische Instinkte der Fußballfans befriedigte, weil er groß, blond und reckenhaft die Personifizierung des scheinbar unaufhaltsamen teutonischen Vorwärtsdranges war.
1922 stand der HSV zum ersten Mal in einem Endspiel um die Deutsche Meisterschaft, das am 18. Juni mit einem 2:2 gegen den 1. FC Nürnberg endete. Die Wiederholung des Endspiels am 6. August endete erneut Unentschieden (1:1), weil das Spiel nach 105 Spielminuten abgebrochen werden musste, als Nürnberg verletzungsbedingt nur noch sieben Spieler auf dem Platz hatte. Nach langem juristischen Hin und Her entschied der DFB-Bundestag im November 1922 nach einer Tagung in Jena, dem HSV den Meistertitel zuzusprechen. Der Vorstand des HSV zeigte jedoch großen hanseatischen Sportsgeist und gab die historische Jenaer Erklärung ab: „Der HSV erhebt keinen Anspruch auf die diesjährige Deutsche Meisterschaft.“ Die offizielle DFB-Statistik führt deshalb für das Jahr 1922 keinen Deutschen Meister.
Ein Jahr später war es aber so weit. Tull Harder führte den Hamburger SV zur Deutschen Meisterschaft 1923, und 1928 gelang der erneute Titelgewinn. Seine Nationalmannschaftskarriere beendete er – mittlerweile 34 Jahre alt – am 12. Dezember 1926 gegen die Schweiz. „Harder Tull war eine Null“, schrieb die Presse über den in diesem Spiel erfolglosen Hamburger. Es war vorbei mit den Elogen.
Als seine Fußballerlaufbahn langsam zu Ende ging, schuf Harder die Grundlagen für seinen zweiten Lebensabschnitt. Bereits seit dem Ende des Weltkrieges und der „Schmach von Versailles“, wie die politische Rechte den Friedensvertrag von 1919 nannte, machte er aus seiner revanchistischen und rassistischen Haltung öffentlich kein Hehl. Früh sympathisierte er mit der Ideologie des Nationalsozialismus, die er mehr und mehr verinnerlichte. Am 1. Oktober 1932 trat er in die NSDAP ein, drei Monate vor der Machtergreifung.
Am 10. Mai 1933 wurde er Mitglied der SS. Er war noch aktiver Fußballer, bereits über 40 Jahre alt und ließ seine Karriere nun beim Ortsrivalen des HSV, dem SC Victoria Hamburg, ausklingen. Danach arbeitete er als Versicherungsmakler.
Sieben Tage vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurde Harder einberufen. Sein Dienstort als SS-Wachsoldat sollte das KZ Sachsenhausen nördlich von Berlin sein. Harders Wunsch nach einem Fronteinsatz wurde abgelehnt, er musste seinen Dienst in Sachsenhausen antreten. Im November 1939 gab man seinem Versetzungsgesuch in die Nähe Hamburgs statt; er kam ins Wachbataillon von Neuengamme. Das persönliche Unheil eines ehemaligen Fußballidols nahm seinen Lauf. An dessen Ende stand das Erschrecken darüber, zu welchen furchtbaren persönlichen Verfehlungen es kommen kann, wenn eine Ideologie alle Grenzen von Ethik, Moral und Menschlichkeit auflöst.
Am 4. März 1956 verstarb Tull Harder nach einer Operation im Krankenhaus von Hamburg- Barmbek. Bei der Trauerfeier im Krematorium Ohlsdorf hielten Nachwuchsspieler des HSV die Ehrenwache, eine Fahne in den Vereinsfarben bedeckte den Sarg. Der HSV-Vorsitzende Heinz Mahlmann verabschiedete den Toten mit den Worten: „Wir werden dich als einen der Großen in Ehren halten, die den Ruhm des HSV begründeten.“
Die kollektive Verdrängung der braunen Vergangenheit hielt im Fall von Tull Harder lange an. Erst in den 70er Jahren wurde die bizarre und erschreckende Vita des Fußballidols öffentlich. Auslöser war eine vom Hamburger Senat in Auftrag gegebene Broschüre zur Fußball-WM 1974, die Hamburg als Austragungsort porträtierte und Jupp Posipal, Uwe Seeler und Tull Harder als die großen HSV-Idole und Vorbilder für die Jugend präsentierte. Einen Tag vor der Veröffentlichung wurden die Herausgeber mit Tull Harders Nazibiografie konfrontiert. Daraufhin entschied man, die betreffenden Seiten herauszutrennen. In den 100.000 Exemplaren „Hamburg ’74 – Fußballweltmeisterschaft“ fehlten deshalb die Seiten 13 und 14. Zugleich stellten sich die Verantwortlichen des HSV der öffentlichen Diskussion um einen der bedeutendsten Spieler in der Clubgeschichte, der in den Bannkreis einer mörderischen Ideologie geraten und zum willfährigen Vollstrecker einer verbrecherischen Politik geworden war.
Ende 2008 erschien ein Buch mit dem Titel „Leg dich, Zigeuner. Die Geschichte von Johann Trollmann und Tull Harder“, das nochmals ein spätes Schlaglicht auf Tull Harder warf und eine breite Debatte in den Feuilletons und Sportteilen der Zeitungen auslöste. In dieser Doppelbiografie wird – streckenweise fiktional – die Geschichte des Zigeuners Johann Trollmann, des Deutschen Meisters im Halbschwergewichtsboxen 1933, und die von Tull Harder erzählt, die sich beide zur gleichen Zeit im KZ Neuengamme, diesem finsteren Ort der Geschichte, befanden, der eine als Insasse, der andere als Wächter. Das Totenbuch des KZ verzeichnet Trollmanns Tod am 9. Februar 1943. Die Todesumstände sind nicht ganz geklärt; es lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, ob er erschlagen oder erschossen wurde oder an Entkräftung starb. Man weiß auch nicht, ob sich der Boxer und der Fußballer wissentlich begegnet sind. Aber beide wurden zum Objekt der Zeitläufte. Der eine hat ihnen nicht zu entkommen vermocht, der andere ist nach Kräften mitgelaufen.
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