Helenio Herrera

Der Erfinder des 1:0

Biografie
Geboren am:
17.4.1916 in Buenos Aires
Gestorben am:
9.11.1997 in Venedig
Grabstätte: Venedig
Cimitero di San Michele
Insel zwischen Venedig und Murano
Haltestelle Cimitero
Stationen der Karriere als Trainer
Vereine: Stade Français Paris (1945-1948)
Real Valladolid CF (1948-1949)
Atletico Madrid (1949-1953)
FC Sevilla (1953-1957)
FC Belenenses (1957-1958)
FC Barcelona (1958-1960)
Inter Mailand (1960-1968)
AS Rom (1968-1973)
Inter Mailand (1973-1974)
AS Rimini (1977-1979)
FC Barcelona (1980-1981)
Europapokal der Landesmeister 1964, 1965
Weltpokalsieger 1964, 1965
Spanischer Meister 1950, 1951, 1959, 1960
Spanischer Pokalsieger 1959, 1981
Italienischer Meister 1963, 1965, 1966
Italienischer Pokalsieger 1969

In den 60er Jahren ging ein Gespenst um in Europa, das Gespenst des Catenaccio. Die Stürmer der nichtitalienischen Vereine wurden sofort von Versagensangst geplagt, wenn es nach einer Europapokalauslosung hieß: Es geht gegen den AC Mailand, Juventus Turin oder Inter Mailand. Die Trainer rauften sich die Haare ob der taktischen Herausforderung, die auf sie zukam, und die Sportjournalisten und Fans beschworen reflexartig „die Mächte des Bösen“ herauf, mit denen sie ihre Mannschaften konfrontiert sahen. Die minimalistische Spielweise der „Spaghettis“, wie man hierzulande die Teams von jenseits des Brenner nicht ganz liebevoll nannte, war äußerst erfolgreich – und ebenso unbeliebt, denn der „Catenaccio“ war für die wahren Fußballästheten geradezu der Inbegriff des Antifußballs.

Die Bezeichnung dieser Defensivstrategie leitet sich von „catena“ ab, dem italienischen Wort für Kette oder Riegel. Auch mit „Betonfußball“ beschrieb man diese destruktive Spielweise, obwohl sie sprachlich korrekt „Riegeltaktik“ hätte heißen müssen. Denn beim Beton bewegt sich gar nichts mehr, der Riegel lässt spielerische Elemente immerhin noch zu. Die passenden Bilder zu diesem rationalen Ergebnisfußball lieferten jene italienischen Spieler, die sich nach Fouls minutenlang auf dem Rasen wälzten, um Zeit zu schinden, und damit die Vorurteile nördlich des Brenner zusätzlich zementierten.

Helenio Herreras Name fällt zwangsläufig, wenn man auf den Catenaccio zu sprechen kommt, der das Ende für die offensive Spielweise von Mannschaften wie Real Madrid, Benfica Lissabon und FC Barcelona bedeutete, die zuvor jahrelang den europäischen Vereinsfußball dominiert hatten. Der polyglotte Mann mit den vier Staatsbürgerschaften Argentiniens, Frankreichs, Spaniens und Italiens praktizierte dieses taktische System mit Inter Mailand am erfolgreichsten und prägte dank seiner Spieler auch den Stil der italienischen Nationalmannschaft in diesen Jahren.

Neben dem zweifachen Gewinn des Europapokals der Landesmeister 1964 und 1965 brachte es ihm die Titel „Totengräber des Fußballs“, „Magier“ und „Sklaventreiber“ ein. Doch der Erfinder des Catenaccio war er nicht. Derjenige, der dieses System als Erster spielen ließ, das dann als „Schweizer Riegel“ Einzug in die Terminologie der Fußballtaktik hielt, war der Österreicher Karl Rappan.

„Nur das Ergebnis zählt, und zwar das positive“

Er entwickelte aus dem damals weltweit praktizierten WM-System eine neue Spielweise, die er in den 50er Jahren erfolgreich mit Schweizer Mannschaften wie Servette Genf, Grashoppers Zürich und später mit der Nationalmannschaft praktizierte. In ihrer Fortentwicklung durch Herrera war die taktische Ausrichtung die, dass vor einem Riegel von sieben Manndeckern und einem Ausputzer lediglich zwei Offensivkräfte standen, davon einer als hängender Linksaußen. Dafür durften die Verteidiger stürmen. Der Kerngedanke des Catenaccio war, den Gegner in der eigenen Hälfte zu erwarten, ihn in extrem enge Räume zu zwingen und dabei hinter seinem Rücken Freiraum für die eigenen Konter zu schaffen.

La Grande Inter: Saison 1963/64: Oben von links: Guiliano Sarti; Giacinto Facchetti; Aristide Guarneri; Carlo Tagnin; Tarcisio Burgnich; Armando Picchi;
Unten von links: Jair; Bruno Petroni; Luis Suarez; Sandro Mazzola; Mario Corso

„Alles Gerede von Schönspielerei und Offensive ist nichts als Geschwätz“, diktierte Herrera in die Notizblöcke der schreibenden Zunft. „Nur das Ergebnis zählt, und zwar das positive. Wer das nicht begreift, muss scheitern. Die Welt liebt nun einmal keine Verlierer, sie schätzt Sieger.“ Der Catenaccio von Inter Mailand war nicht aus der Not geboren, denn Herrera stand neben dem brillanten Verteidigerduo Tarcisio Burgnich und Giacinto Facchetti eine Fülle an offensiven Weltklassespielern wie Luis Suarez, Sandro Mazzola, Jair oder Mario Corso zur Verfügung. Aber er opferte ihre individuellen Fähigkeiten auf dem Altar der Erkenntnis, dass man auf Dauer mit offenem Visier nicht die großen Erfolge erzielt.

Er behandelte und erzog seine Spieler autoritär und zielgerichtet. „Vorher hatte man Spieler, die Whisky getrunken haben und Huren hatten, obwohl sie verheiratet waren.“ Selbst die Spielerfrauen erhielten Verhaltensmaßregeln: „Halten Sie sich zurück. Mit 30 ist ihr Mann als Sportler am Ende, aber immer noch ein Mann. Dann können Sie mit ihm machen, was er will.“ Der Engländer Gerry Hitchens, ein ehemaliger Spieler von Inter, versinnbildlichte die Atmosphäre im Club: „Herrera ist ein Genie. Aber Inter zu verlassen, war, wie aus der Army entlassen zu werden.“

Helenio Herrera war ein Vordenker und hat das taktische Verständnis vieler erfolgreicher Trainer in den folgenden Jahrzehnten stark beeinflusst. Trainer wie Mourinho, Lippi, Hitzfeld oder Trappatoni haben die Grundlehren des Catenaccio verinnerlicht, aber entsprechend dem Potenzial ihrer Spieler variantenreich weiterentwickelt. Und wie der große Helenio Herrera sind sie die Protagonisten der Mannschaft geworden, nicht die Spieler, die vielleicht von der Öffentlichkeit wie Popstars verehrt werden, aber in den Strategieplänen ihrer Trainer nichts als austauschbare Figuren sind. Mit dem öden Catenaccio war es nach dem WM-Titel für Italien im Jahre 1982 vorbei. Man schwor ihm ab. Systemfußball, wie man ihn nannte, hielt Einzug, ein geschmeidiger Angriffsfußball voller Harmonie, Eleganz und Kraft.

Defensive war weiterhin wichtig, aber alle zehn Feldspieler beteiligten sich an den Kontern. Dieser neue Stil kam erneut aus Mailand. Diesmal war es der AC Mailand mit seinem Trainer Arrigo Sacchi, und die Akteure auf dem Feld hießen jetzt Franco Baresi, Frank Rijkaard, Ruud Gullit und Marco van Basten.

Ein Jahr vor Beginn der Fußball-WM 1982 in Spanien beendete Helenio Herrera seine erfolgreiche Trainerlaufbahn und zog sich in seine Wahlheimat Venedig zurück. Die Stationen seiner Karriere können sich sehen lassen, und sein Name hat immer noch einen legendären Ruf. Wenn es nicht nur um die Schönheit des Spiels geht, sondern um Gewinnen oder Verlieren, gilt bis heute jene zuerst von ihm formulierte Maxime, die in der kosmopolitischen Welt des heutigen Profifußballs so lautet: „Offense wins games, defense wins championships.“

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