Lothar „Emma“ Emmerich
„Gib mich die Kirsche!“
Binnen 24 Stunden verstarben im August 2003 unweit voneinander zwei der besten Stürmer, die der deutsche Fußball hervorgebracht hat. Das ist die eine Gemeinsamkeit. Die andere ist, dass beide Tore erzielten, der eine 1954, der andere 1966, die sich in das Gedächtnis der deutschen Fußballfreunde, die die Treffer vor Ort oder im Fernsehen gesehen haben, für immer einmeißelten. Der eine, Helmut Rahn, mit dem Siegtor zum 3:2 Deutschlands gegen Ungarn im WM-Finale von 1954 in Bern, der andere, Lothar Emmerich, mit dem Ausgleichstreffer Deutschlands zum 1:1 gegen Spanien bei der WM 1966 in England, das den Weg Richtung Finale öffnete. Helmut Rahns Tor war weniger spektakulär, ist aber Bestandteil der Geschichtsschreibung, wenn es um das wachsende Selbstwertgefühl der jungen Bundesrepublik Deutschland geht. Emmerichs Tor hingegen verleitet zu poetischen Ausführungen, wenn man Entstehungsgeschichte und Ausführung beschreiben will.
Schauplatz ist der Villa Park in Birmingham am 20. Juli 1966. Es ist 20:39 Uhr. Im letzten Vorrundenspiel der Gruppe B muss Deutschland gegen Spanien gewinnen, um den heimstarken Engländern im Viertelfinale aus dem Weg zu gehen. Spanien führt 1:0. Sigi Held macht einen Einwurf zu Wolfgang Overath, der sieht Emmerich auf der linken Seite sprinten und passt den Ball in Richtung Torauslinie. Der Winkel zum Tor ist sehr spitz, der Linksfüßler Emmerich hat gerade noch Platz für eine Flanke zurück in den Sechzehner, aber mit einem wuchtigen, leicht über den Außenspann abgerollten Schuss trifft er den Ball so, dass er fast von der Torauslinie kommend hoch im spanischen Kasten einschlägt. Torwart Iribar kann sich später nur an den Luftzug erinnern. Ein Tor für die Ewigkeit! Emmerich liegt nach dem Torschuss flach auf dem Boden, die Mitspieler fallen jubelnd über ihn her. „Sie hätten mich zur Sau gemacht“, sagte der Schütze später, „wenn der Ball, wie normalerweise zu erwarten war, in die Kulisse geflogen wäre.“ Ist er aber nicht. „Sputnik- Tor“ wird der Treffer in der deutschen Presse getauft, und in England schreibt der „Daily Telegraph“: „Die Macht des Schusses war erschreckend. Man weiß nicht, ob der Villa Park je wieder der alte sein wird.“ Der Villa Park steht noch, aber die Fußballgeschichte hatte noch eine Wiederholung dieses sensationellen Schusses zu bieten. Im EM-Finale 1988 zwischen den Niederlanden und der Sowjetunion erzielte Marco van Basten ein fast identisches Tor zum 1:0. Der Unterschied war nur, dass er von rechts und volley traf.
„Die Macht des Schusses war erschreckend“
Der Mann, den sie „Emma“ nannten, wurde als Sohn eines Bergmanns im Dortmunder Stadtteil Dorstfeld geboren. Max Merkel entdeckte den jungen Autoschlosser in der Jugendmannschaft des SC Dorstfeld und holte ihn zu Borussia Dortmund. Die ersten Jahre konnte er sich nicht durchsetzen, zu stark war die Konkurrenz im Sturm mit Alfred Kelbassa, Timo Konietzka und Jürgen Schütz. Sein Durchbruch kam in der Saison 1965/66, als der neue Trainer „Fischken“ Multhaupt, der zuvor mit Werder Bremen Deutscher Meister geworden war, eine neue Borussenmannschaft aufzubauen begann.
Mit den Neuerwerbungen Sigi Held von den Offenbacher Kickers und Stan Libuda von Schalke 04, gelenkt vom routinierten Aki Schmidt, wurde frischer Offensivfußball gespielt, während Spieler wie Hans Tilkowski, Rudi Assauer und Wolfgang Paul für die nötige Defensivabsicherung sorgten. Borussia Dortmund stieß in die Spitze des internationalen Fußballs vor und wurde 1966 im Glasgower Hampden Park mit einem 2:1 n.V. gegen den scheinbar übermächtigen FC Liverpool erster deutscher Europapokalsieger.
„The terrible twins“, wie die englische Presse das Sturmduo Emmerich und Held nannte, spazierten so erfolgreich durch die Abwehrreihen ihrer Gegner, dass Bundestrainer Helmut Schön nicht umhinkam, beide für die WM 1966 zu nominieren. Held spielte durchgehend, Emmerich kam erst gegen Spanien zum Einsatz, nachdem im deutschen Blätterwald unter der Parole „Jetzt muss Emma ran!“ Druck auf Schön ausgeübt wurde. Sein Tor gegen Spanien sicherte ihm die kommenden Einsätze bis zum Endspiel, in dem er allerdings ein Komplettausfall war. Emmerich wusste das. „Wir konnten nicht so spielen wie im Verein, sind nur hinter den englischen Außenverteidigern hergelaufen. Aber Auswechseln gab ’s ja damals noch nicht.“
In den nächsten Jahren hielt Emma sein hohes Niveau als Torgarant, wenn er mit unverfälschter Revierrhetorik „Gib mich die Kirsche!“ schrie, um zu verwandeln und eine seine ehernen Weisheiten loszuwerden: „Abschluss und Einschlag im gleichen Moment – dat woll’n die Leute sehn!“ Lothar Emmerich war der erfolgreichste Torschütze der Bundesliga in den 60er Jahren. Zum Ende dieser Dekade war Schluss mit dem Höhenflug der Dortmunder Borussia. Die erfolgreiche Mannschaft zerfiel nach und nach, teils weil ältere Spieler ihre Laufbahn beendeten, teils weil andere den Verein verließen und nicht gleichwertig ersetzt werden konnten. Mit Beginn der Saison 1969/70 wechselte Emma nach Belgien, der Beginn einer langen Wanderschaft, bis er 1999 zurück zur Borussia kam und als Fanbeauftragter gemeinsam mit seinem alten Weggefährten Aki Schmidt die emotionale Klammer für die jungen und alten Borussenfans bildete.
In den Jahren davor hatte er als Spieler im In- und Ausland viele gute Mark, Francs oder Schillinge verdient. 1978 war Schluss mit der „linken Klebe“. Emmerich wurde Trainer, aber kein erfolgreicher. Die Stationen lesen sich wie der Wochenfahrplan eines Handelsvertreters, der über Deutschlands Dörfer tingeln muss. Emma erkannte seine Grenzen und handelte. 1990 schloss er eine Prüfung zum Kanalinspektor erfolgreich ab und wurde Angestellter eines Mainzer Unternehmens. Sein neuer Job bestand darin, für öffentliche und private Auftraggeber mithilfe moderner Videogeräte Kanäle und Rohrleitungen auf Schäden zu inspizieren. 1999 bot ihm der damalige Präsident von Borussia Dortmund, Gerd Niebaum, die Stelle des Fanbeauftragten an, die Emmerich annahm.
Nicht lange nach der Rückkehr in seine Heimatstadt erkrankte er an Krebs. Lange kämpfte er gegen seinen schwersten Gegner, doch am 13. August 2003 starb er in einer Lungenklinik im Sauerland. Vier Wochen zuvor war „Adi“ Preißler, mit 168 Toren einer der erfolgreichsten Stürmer der Dortmunder Borussia und Mitglied der Meistermannschaft von 1956 und 1957, verstorben. Seine Fußballweisheit „wichtig is auf ’m Platz!“ gehört heute zum Repertoire eines jeden deutschen Fußballtrainers. Borussia Dortmund hatte zwei große Söhne verloren. Und einen Tag nach Emma verstarb auch Helmut Rahn.
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