Jenö Buzansky
„Wir haben verloren. Das bleibt“.
Am 8. Februar 2012 feierte Horst Eckel seinen 80. Geburtstag im Fritz-Walter-Stadion auf dem Betzenberg von Kaiserslautern. Die gesamte Führungsspitze des DFB, angeführt vom damaligen Präsidenten Theo Zwanziger und seinem späteren Nachfolger Wolfgang Niersbach machte ihre Honneurs. Tony Marschall sang deutsches Liedgut. Jessica Kastrop moderierte. Unter all den Ehrengästen befand sich ein kleiner, schweigsamer Mann und suchte immer die Nähe zum Jubilar. Es war Horst Eckels Freund Jenö Buzansky. Beide kannten sich schon lange. Seit fast 58 Jahren. Ort und Tag der Erstbegegnung war der 20. Juni 1954 in Basel. Deutschland verlor sein Vorrundenspiel bei der Fußball-Weltmeisterschaft gegen Ungarn mit 3:8. Nebensächlich, weil der deutsche Trainer Sepp Herberger diese Niederlage einkalkuliert hatte, um in einem Entscheidungsspiel gegen die Türkei das Viertelfinale zu erreichen und den Ungarn –zumindest bis zu einem möglichen Endspiel –aus dem Wege zu gehen. Das Spiel hatte trotzdem Auswirkungen auf das unerwartete Finale zwischen Deutschland und Ungarn am 4. Juli 1954 im Berner Wankdorf-Stadion. Die Ungarn fühlten sich bestärkt in ihrem Gefühl der Unbesiegbarkeit. Und Deutschlands Vorstopper Werner Liebrich eliminierte mit einem Tritt gegen den Knöchel von Ferenc Puskas das „Hirn“ der ungarischen Mannschaft, so formuliert von Jenö Buzansky. „Ohne unseren besten Mann mussten wir im Viertel-und Halbfinale gegen Brasilien (4:2) und Uruguay (4:2 n.V.) spielen. Das war äußerst strapaziös. Zur gleichen Zeit gewannen die Deutschen gegen die Österreicher mit 6:1. Das war keine Belastung, sondern nur ein Spielchen. Sie hatten im Finale einen deutlichen physischen Vorteil und Puskas wollte unbedingt spielen, war aber gehandicapt“.
Und der ungarische Trainer Sebes übersah in seiner Hybris nach dem hohen Sieg, der auch noch höher hätte ausfallen können, dass sein Trainerkollege, der „alte Fuchs“ Sepp Herberger nicht alle Hochkaräter, sondern nur sechs Spieler nominiert hatte, die dann später im Finale aufliefen. Die anderen schonte er. Lieber in ein Entscheidungsspiel gegen die Türkei gehen als die Ungarn wieder im Viertel-oder Halbfinale zu bekommen. Am besten im Finale.
Ungarn spielte bis auf Jozsef Toth mit der gleichen Elf, die dann im Finale auf Deutschland traf, nur Jozsef Toth wurde durch seinen Bruder Mihaly ersetzt. Bei der Party der „Puszta-Söhne“ nach dem Spiel in ihrem Hotel in Solothurn floss manch guter Tropfen Tokajer nebst gutem Gulasch. Man tanzte Csardas. „Wer will uns schlagen? Nur wir selbst“. Und genau so kam es.
Beim Endspiel trafen sich Jenö und Horst wieder. Sie hatten wenige Berührungspunkte im Spiel. Jenö verteidigte rechts gegen Hans Schäfer, Horst war als Klammeraffe im Mittelfeld auf Nandor Hidegkuti angesetzt, um diesen genialen Stürmer aus dem Spiel zu nehmen, und sollte laut Herbergers Direktive diesem auch – wenn nötig- auf die Toilette folgen.
Das Spiel wurde zum Alptraum für Jenö, der aus der ungarischen Provinz nahe dem Plattensee stammte und der einzige Spieler der „Goldenen Mannschaft“ war, der nie für einen der großen Budapester Klubs gespielt hat. Sein permanent wiederkehrendes Trauma: „Jedes Jahr am 4. Juli denke ich daran und bekomme immer noch Schweißausbrüche. Nach dem Finale weinte ich auf meinem Zimmer. Zum letzten Mal in meinem Leben. Selbst bei der Beerdigung meines Vaters und meiner Mutter konnte ich nicht mehr weinen“.
Und das Spiel hatte so gut für die Ungarn begonnen.Doch die frühe Führung zum 2:0 durch Puskas und Czibor ließ sie nachlässig werden. Die deutschen Spieler waren trotz des frühen Rückstandes nicht ganz entmutigt, sondern entschlossen, um ihre fußballerische Reputation zu kämpfen und eine erneute Deklassierung wie beim 3:8 zu verhindern. Horst Eckel schildert es hautnah: „Auf, Männer! Das macht nichts, erst acht Minuten! Weiter! Jetzt lassen wir nichts mehr anbrennen, jetzt ist hinten dicht“. Jenö Buzansky: „Wir hatten nach dem 2:0 erste Ermüdungserscheinungen. Der Kopf war nicht mehr imstande, den Beinen die nötigen Befehle zu geben“. Morlock schaffte bereits in der 10. Minute den Anschlusstreffer zum 2:1. Und dann kam die 18. Minute. In der ungarischen Abwehr herrschte Verwirrung nach einem Eckball für Deutschland. Helmut Rahn erzielte das 2:2. Jenö schilderte das Szenario aus seiner Sicht. „Der Ball strich mir am Schienbein entlang. Zwei Zentimeter höher, das Spiel wäre anders verlaufen“. Und, so der bittere Unterton: „mein Leben auch“. Jenö: „Zur Halbzeit in der Kabine habe ich in die Gesichter meiner Kameraden geschaut: Ich sah Müdigkeit und Leere. Da ist mir zum ersten Mal der furchtbare Gedanke gekommen: heute ist der Tag, an dem wir verlieren können“. Torhüter Grosics befielen auch bereits schwere Gedanken. „ In der Halbzeit hatte ich das Gefühl, am Rande der Gruft zu stehen“. „Doch mit des Geschickes Mächten ist kein ew’ger Bund zu flechten, und das Unglück schreitet schnell“. (Schiller). Der Fußballgott hatte plötzlich Ungarn seine Gunst entzogen. Ganz nach dem Motto: „Wen die Götter lieben, den lassen sie früh sterben.“ (Titus Maccius Plautus). Hier war es gleich eine ganze Mannschaft, die auf dem Altar ihrer Arroganz geopfert wurde. Vielleicht lag es aber auch daran, dass die Ungarn im Stadthotel Krone (Hauptstrasse 64) in Solothurn wohnten. Buzansky: „Das Finale war am Sonntag. In der Nacht davor passierte noch etwas: In Solothurn war Volksfest. Direkt vor unserem Hotel! Es haben Blaskapellen gespielt, Chöre sangen, und angeblich hat eine deutsche Brauerei Freibier spendiert. Unglücklicherweise war es noch sehr warm, so dass man die Fenster öffnen musste. Bis in die Morgenstunden haben wir kein Auge zugemacht“.
Auch das entscheidende Tor für Deutschland durch Helmut Rahn nahm in Jenös Territorium seinen Anfang. Ungarn stürmte in der zweiten Halbzeit mit hohem Offensivdruck, um die Entscheidung zu erzwingen und eine mögliche Verlängerung zu vermeiden. Das wäre ein paar Tage nach dem schweren Halbfinale gegen Uruguay (4:2 n.V) die zweite hintereinander gewesen. Zu kraftraubend. Die deutsche Abwehr wankte. Die stark besetzte ungarische Offensive drängte und drängte. Hidegkuti traf den Pfosten, Kocsis die Latte. Und Toni Turek hielt überragend. Dazu Kohlmeyers Rettungstaten. Auch der dauernd offensiv agierende Läufer Bozsik (Herbert Zimmermanns Kommentar: Immer wieder Bozsik!) machte enormen Druck auf die aufopferungsvoll kämpfende deutsche Abwehr. Ein drittes ungarisches Tor schien nur noch eine Frage der Zeit. Aber es fiel nicht. Im Gegenteil. In der 84. Minute grätschte Hans Schäfer Bozsik bei einem erneuten Angriffsversuch noch in der ungarischen Hälfte recht unsanft ab, der Pfiff von Schiedsrichter Ling blieb aus, und Schäfer lief mit dem Ball Richtung 16er. Ottmar Walter schrie „Rein!“ Die Flanke kam und was dann passierte, weiß man ja.
Es ranken sich viele Legenden um den Grund für die Niederlage. Buzansky konkretisierte ihn aus ungarischer Sicht, ohne all die Verschwörungs-Theorien von Doping, Bestechung, besseren Stollen von Adidas oder dem englischen Schiedsrichter Ling, der Rache für Wembley 1953 nehmen wollte. „Sebes war ein ausgezeichneter Fußballtrainer. Er hat alles vorbereitet, nur das Endspiel nicht. Er wollte zeigen, dass er der beste Taktiker der Welt ist. Jetzt mache ich mal was, womit der Gegner nicht rechnet“. Er verschob Czibor, den brillanten Linksaußen, auf Rechtsaußen. Den etablierten Rechtsaußen Budai, der schon seit Jahren mit Kocsis bei Honved Budapest und der Nationalmannschaft eine sehr erfolgreiche, eingespielte Achse bildete, ersetzte er durch Mihaly Toth, den er auf die linke Angriffsseite beorderte.“ Torwart Grosics sagte Jahrzehnte später:“ Toth! Der war schon alt und plötzlich kam er neu in die Mannschaft. Wieso, wo wir doch Budai hatten, der wirklich stark war? Na ja, vielleicht dachte Sebes, ich stelle dem angeschlagenen Puskas das Arbeitstier Toth zur Seite“
Die Taktik mit Czibor ging übrigens zunächst voll auf. Deutschlands linker Verteidiger Kohlmeyer war völlig überfordert mit ihm, was den Deutschen bis zur 8. Minute bereits einen 0:2 Rückstand einbrachte. In der zweiten Halbzeit stellte Sebes dann um. Er war unsicher geworden ob seiner Taktik. Toth war ein Totalausfall. Czibor stürmte nun links, Kohlmeyer kümmerte sich rechts um Toth. Er tat sich jetzt leichter und wurde zum Ersatztorwart. Zweimal rettete er auf der Linie für den geschlagenen Turek.
Buzansky hatte jahrelang im ungarischen System die Aufgabe, auf dem rechten Flügel nach vorne zu gehen, wenn Rechtsaußen Budai in dem sinnverwirrenden Wechsel des ungarischen Spielsystems grandioser Einzelkönner nach innen zog. Beim großen Spiel gegen England 1953 (in Wembley 3:6) rechneten die an ihrem starren WM- System festhaltenden Briten nicht damit, dass ein rechter Verteidiger und ein Rechtsaußen überlappend spielen konnten. Sie blickten auch anderweitig nicht mehr durch. Sie wurden von Ungarns brillanten Spielern und deren taktischen Finessen an die Wand gespielt. Beim Rückspiel am 23. Mai 1954 in der Gluthitze von Budapest spielten die „Magyaren“ erneut groß auf. Die Engländer bekamen Sonnenbrände auf der Zunge vom Hinterherlaufen. Aber beim WM-Endspiel in Bern stand Budai nicht auf dem Platz, sondern verfolgte in der Reporterkabine des legendären György Szepesi das Spiel. Der erinnerte sich später an Budais Vorahnung:“ Dieses Spiel werden wir verlieren. Die anderen sind konditionell besser als wir“.
Als Buzansky und das Team nach Ungarn zurückkehrten, war aus der „Goldenen Mannschaft“ eine „Silberne“ geworden. In den Augen der Ungarn wertlos. Die Mannschaft fühlte sich unwohl, als sie die Grenze erreichte. Die Spieler wussten, dass nach dem Abpfiff des Finals zehntausende Landsleute in Budapest auf die Straße gegangen waren. Die fürchterlich enttäuschten Anhänger zogen durch die Rakoczi-utca, warfen Straßenbahnen um und Schaufenster ein, holten die Bilder der Mannschaft aus den Auslagen und warfen sie auf die Straße. Das war die erste Massendemonstration in der repressiven kommunistischen Diktatur. Der Kitt, den die National-Mannschaft zwischen Volk und Regime bildete, war mürbe geworden. All das waren die Vorboten des Volksaufstandes in Ungarn zwei Jahre später, 1956. Deshalb wurde die Mannschaft erst gar nicht nach Budapest gebracht, sondern in das Trainingslager in Tata.
Einen Tag später besuchte sie der Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Rakosi, ein gefürchteter Stalinist und verantwortlich für das repressive, diktatorische System in Ungarn seit 1948, das Team im Trainingslager. Auf die Frage, was er zur Mannschaft gesagt habe antwortete Torhüter Grosics, der natürlich auch Sündenbock war: “ Er hat eine kleine Ansprache gehalten, etwa so: Das war eine Niederlage, so etwas kann immer passieren. Bei der nächsten Weltmeisterschaft machen wir es besser. Bis dahin braucht niemand Angst zu haben. Ab diesem Moment fing die ganze Mannschaft an, Angst zu haben. Das war eine nackte Drohung“. Keine gute Motivation für weitere Höchstleistungen hin zur WM 1958 in Schweden.
Mit dem Volksaufstand Ende 1956 endete die große Zeit des ungarischen Fußballs. Ein Teil der Spieler flüchtete ins westliche Ausland und setzte dort die Karriere erfolgreich fort (Puskas, Czibor, Kocsis). Jenö Buzansky blieb, spielte weiter erstklassig bis 1960. Danach arbeitete er als Journalist nördlich von Budapest in Esztergom nahe der slowakischen Grenze. Und pflegte die Freundschaft zu Horst Eckel. „Nicht die Deutschen haben das Spiel gewonnen. Wir haben verloren. Das bleibt. Ein Leben lang.“ Am 11. Januar 2015 ist Jenö gestorben. Nach seinem Tod kehrte er in den Kreis seiner Kameraden zurück, die in Budapest bestattet sind. Ferenc Puskas, Sandor Kocsis, Guyla Grosics und Jenö Buzansky ruhen nun in der Krypta der St. Stefans Basilika neben Ungarns Königen. Eine späte Ehre für die ehemals Geächteten.