Lew Jaschin

Die schwarze Spinne

Biografie
Geboren am:
22.10.1929 in Bogorodskoye (bei Moskau)
Gestorben am:
20.3.1990 in Moskau
Grabstätte: Moskau
Friedhof Vagankovskoye
Ulica Sergeja Makeeva
Sektor 25
Vom Haupteingang geradeaus hinter dem
Krematorium
Stationen der Karriere als Fußballer
Position: Torhüter
Verein: Dynamo Moskau (1950-1971)
78 Länderspiele (1954-1967)
WM-Teilnehmer 1958, 1962, 1966, 1970
Olympiasieger 1958
Europameister 1960
Europas Fußballer des Jahres 1963
Sowjetischer Meister 1954, 1955, 1957, 1959, 1963
Sowjetischer Pokalsieger 1953, 1967, 1970



Lew Jaschin war in der Hochphase des Kalten Krieges, als die Weltmächte USA und Sowjetunion manchmal am Rand eines Atomkrieges standen, ein Mythos auf Europas Fußballplätzen in Ost und West. Der Torhüter von Dynamo Moskau und der sowjetischen Nationalmannschaft hatte den Nimbus, der beste Torwart der Welt zu sein, schnörkellos spielend, ohne Effekthascherei, mit phantastischer Sprungkraft und Reflexen ausgestattet. Diese Verherrlichung rührte auch daher, dass es in vielen Haushalten in Europa noch keine Fernsehgeräte gab und Fußballübertragungen bei weitem nicht so inflationär waren wie heute. Man konnte die Legenden viel seltener sehen und musste den Berichten in der Zeitung glauben. Je größer die Entfernung, desto gewaltiger die Aura. Besonders Jaschins Wahl zum Fußballer Europas 1963 – als erster und bisher einziger Torwart überhaupt – machte ihn zu einem Star, der obendrein aus einem Land kam, in dem politisch und damit auch sportlich das Kollektiv an erster Stelle stand, nicht das Individuum. Aber seine Klasse ließ ihn aus der Masse hervorragender Fußballer herausragen, mit denen die Sowjetunion in den 60er Jahren auch den Weltfußball beherrschen wollte.

Während die heutigen Stars ihre Frisuren zu Imagezwecken stylen, nutzte Jaschin in jener Zeit, als die Bildschirme und Gazetten nur Schwarzweißbilder lieferten, das Merkmal „schwarz“, um sich im Umfeld relativ unspektakulären Trikot- und Haardesigns zu profilieren. Haare, Trikot, Stutzen, Handschuhe, selbst seine breite, scheußliche Schirmmütze, wie sie auch die sowjetischen Fabrikarbeiter trugen: Alles war schwarz. Was lag näher, ihn in der Sportberichterstattung mit kreativen Wortschöpfungen zum „schwarzen Panther“, zum „schwarzen Polypen“ oder zur „schwarzen Spinne“ zu befördern, zumal seine langen Arme und Beine die Sprachphantasie zusätzlich beflügelten.

Seinen größten Triumph verhinderte Beckenbauer

Jaschin wirkte wie ein grimmiger Wächter, der mit riesigen Pranken vor einem Tresor steht. Was an ihm vorbeigeht, geht auch am Tor vorbei. Und der Moskowiter spielte bereits so, wie man sich heute den Torwart wünscht: ein zusätzlicher Feldspieler, der mit der Rückpassregel keine Schwierigkeiten hat. Dabei war ihm seine Karriere, die ihm am Ende den Leninorden, die höchste sowjetische Auszeichnung einbrachte, so nicht vorgezeichnet. Der junge Lew brillierte vielmehr als Eishockeytorwart, Schachspieler, Basketballer und Fechter. Erst nach einigen Anlaufschwierigkeiten etablierte er sich ab 1950 als Schlussmann von Dynamo Moskau, um dann für lange zwanzig Jahre unumstrittenes Rückgrat des Vereins und der sowjetischen Nationalmannschaft zu werden. Sechs nationale Meisterschaften, der Olympiasieg 1958 und der Europameistertitel 1960 mit der Sowjetunion bei insgesamt 78 Länderspielen und nur 70 Gegentoren sind Beleg seiner Klasse.

Seinen größten Triumph verhinderte Franz Beckenbauer. Im Halbfinale der WM 1966 in England bezwang der kommende Weltstar die „schwarze Spinne“ mit einem perfekten Gewaltschuss aus zwanzig Metern halbhoch ins Eck und verhinderte den Einzug der Sowjets in das Finale gegen England. Dieser Sieg über die Sowjetunion war ein großer sportlicher Erfolg und sicherte der Bundesrepublik die Endspielteilnahme.

Lew Jaschin mit einer Glanzparade bei einem Länderspiel der UdSSR.

Noch bedeutender als dieser Halbfinalerfolg war aber ein Spiel gegen den gleichen Gegner, das rund elf Jahre vorher, am 21. August 1955, bei brütender Hitze in Moskau stattgefunden hatte. Angeführt von den Kapitänen Fritz Walter und Igor Netto und den Torhütern Fritz Herkenrath und Lew Jaschin betraten die Mannschaften das Dynamo-Stadion. 80.000 Zuschauer jubelten ihnen zu. Die Hörfunkreporter Herbert Zimmermann und Rudi Michel beschrieben eindrucksvoll die gewaltige, emotional aufgewühlte Atmosphäre. 14 Jahre nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion und zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der unvorstellbar viele Menschenopfer gefordert und zerstörte Städte und Landschaften zurückgelassen hatte, öffnete dieses Freundschaftsspiel ein Stück weit den Eisernen Vorhang, der nicht nur eine real existierende Grenze war, sondern sich auch zwischen die gegenseitige geistige Wahrnehmung beider Völker geschoben hatte.

Das von der Sowjetunion mit 3:2 gewonnene Spiel wurde zum Vorboten der Entspannungspolitik, denn drei Wochen später, am 8. September 1955, traf Bundeskanzler Adenauer in Moskau ein, um mit Nikita Chruschtschow über die Freilassung der noch in der Sowjetunion festgehaltenen Kriegsgefangenen und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu verhandeln. Nach fünf Tagen waren die Verhandlungen am Ziel. Im Oktober 1955 trafen die letzten rund 10.000 Heimkehrer im Durchgangslager Friedland bei Göttingen ein, bald darauf nahm die Bundesrepublik Deutschland mit der Sowjetunion diplomatische Beziehungen auf.

Als Lew Jaschin, „Held der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“, 1971 vor über 100.000 Zuschauern im riesigen Moskauer Leninstadion von der Weltbühne des Fußballs abtrat, gaben ihm die großen Fußballer der damaligen Zeit die Ehre und spielten in einer Weltauswahl gegen Dynamo, für das Jaschin letztmals im Tor stand.

Grabstätte von Lew Jaschin:
Moskau, Friedhof Vagankovskoye , Ulica Sergeja Makeeva Sektor 25. Vom Haupteingang geradeaus hinter dem Krematorium.

Danach sah man das Idol aller Torhüter dieser Welt nicht mehr oft. Im politischen System der Sowjetunion stand man allzu häufigen Auslandsreisen in den Westen sehr reserviert gegenüber. Jaschin übernahm von 1975 bis 1980 die Präsidentschaft seines ehemaligen Clubs und wechselte anschließend in das Sportministerium der Sowjetunion. Gleichzeitig amtierte er als Vizepräsident des sowjetischen Fußballverbandes. Aber auch eine Krankheit machte Jaschin zu schaffen. Erneut kam die „Schwärze“ ins Spiel. Er, der wie so mancher Moskauer Straßenjunge mit weniger als zehn Jahren das Rauchen angefangen hatte und zeitlebens Kettenraucher bevorzugt amerikanischer Zigaretten war, bekam ein Raucherbein. 1982 erlitt der Mann, der selbst in der Halbzeitpause seinem Laster nachging, zwei Schlaganfälle. 1984 musste ihm das rechte Bein amputiert werden. Als im Herbst 1989 zu Ehren seines 60. Geburtstages erneut eine Weltauswahl alter Weggefährten im strömenden Regen vor 60.000 Zuschauern gegen Dynamo Moskau antrat, ahnten Eusebio, Beckenbauer, Bobby Charlton, Carlos Alberto und Karl-Heinz Rummenigge, dass es nicht mehr viele Feste mit dem Jubilar geben würde. Ein paar Monate später starb der große Gospodin Lew Iwanowitsch Jaschin, und ganz Russland trauerte.

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