Varela, Obdulio Jacinto Muinos

„El Negro Jefe“

Biografie
Geboren am: 20.10.1917 in Montevideo
Gestorben am 2.8.1996 in Montevideo
Grabstätte: Montevideo, Cementerio del Cerro
Camina Ciblis 3820
Stationen der Karriere als Fußballer
Position: Mittelfeld
Vereine: Club Deportivo Juventud (1935-1938)
Montevideo Wanderers (1938-1943)
Penarol Montevideo (1943-1956)
Quelle Foto: Libcom.org
Quelle Foto Grab: Christian Martin.twitter.com
Uruguayischer Meister 1944, 1945, 1949, 1951, 1953, 1954
Weltmeister 1954

Die brasilianische Seele hat in den letzten 75 Jahren zwei schwere Verwundungen erlitten, die noch lange nicht verheilt sind, und wenn nicht noch etwas ähnliches wie 1950 und 2014 passiert, auch die nächsten 100 Jahr nachhaltig sind.

Der erste Stich ins Herz der brasilianischen Nation war der Verlust der sicher geglaubten Weltmeisterschaft 1950. Im letzten Spiel der Gruppenphase gegen Uruguay am 16. Juli im Stadion Maracana in Rio de Janeiro brauchte Brasilien nur ein Unentschieden, um Weltmeister zu werden. Brasilien verlor mit 1:2. Heute sind dieses Spiel und dieser Schauplatz integraler Bestandteil der brasilianischen Sprache, wenn es um die Beschreibung eines großen Unglücks geht: „Maracanaco“!

Aber der Fußballgott hatte eine noch schwerere Prüfung für das brasilianische Gemüt vorgesehen. Am 8. Juli 2014, fast auf den Tag genau 64 Jahre später, aber diesmal nicht im Maracana, sondern im „Estadio Governador Magalhaes Pinto“, Kurzname „Mineirao“ in Belo Horizonte. Es fand eine fußballerische Demütigung, wenn nicht sogar eine Hinrichtung des Gastgebers statt. Brasilien verlor das WM-Halbfinale mit 1:7 gegen Deutschland. Das „sätschi-um“ (portugiesisch 7:1) wurde zu einer weiteren Metapher und zum Bestandteil des täglichen Sprachgebrauchs in Brasilien für vernichtende Niederlagen oder schwere Missgeschicke. Die Henker 2014 hießen diesmal Thomas Müller, Miroslav Klose, Sami Khedira, Toni Kroos und Andre Schürrle.

Zurück zu 1950. Obdulio Varela war der Fels und wortgewaltige Kapitän, „El Negro Jefe“, an dem sich alle Verzagten der Celeste Uruguays aufrichten konnten angesichts der Zuschauermassen, die die Urus zum Finale im Maracana am 16.Juli 1950 erwarteten.150.000, vielleicht sogar 200.000? Egal. Varela spürte, dass die Kabine seiner Mannschaft in den Katakomben des Stadions der „Vorhof zur Hölle“ war, wie in Dantes Göttlicher Komödie. „Ihr, die hier eintretet, lasset alle Hoffnungen fahren.“ Und dann fielen um 14.50 beim Verlassen der Kabine seine bedeutungsschweren Worte: „Die spielen alle nicht mit“. Maspoli, Ghiggia, Schiaffino oder Andrade folgten ihrem „Jefe“ in ihren blauen Jerseys. Brasilien spielte in Weiß. Aber nach diesem Spiel nie wieder! Das Land des Amazonas verfiel für lange Zeit in Agonie. Erst 1958 folgte der Agonie die Euphorie und dauerte bis 1962. Zwei Mal Weltmeister hintereinander. Das tiefe Tal der WM 1966 war bei der WM 1970 in Mexico schon wieder durchschritten. Erneut Weltmeister. Ein Land, immer hoch jauchzend und tief betrübt.

Uruguay vor dem abschließenden Gruppenspiel 2:1 gegen Brasilien im Maracana. Links oben Obdulio Varela.

Quelle Foto: m.facebook.com

Varela konnte sich in die Seele der Brasilianer hineinversetzen. „Wenn ich dieses Finale noch einmal spielen müsste, würde ich absichtlich ein Eigentor erzielen. Am Abend des Titelgewinns waren wir noch in einer Bar, tranken ein paar Bier und beobachteten die Leute. Alle weinten, weil sie den größten Karneval aller Zeiten feiern wollten, und wir hatten ihn ihnen vermiest. Ich fühlte mich sehr schlecht angesichts dieser Traurigkeit“.

Ganz Brasilien weinte an jenem Tag, aber Varela hatte seine Arbeit getan. Er war der Dirigent im Hintergrund, während die Welt noch heute auf die Tore von Pepe Schiaffino und Alcides Ghiggia schaut.

„El Negro Jefe“ war erneut Kapitän der Urus bei der WM 1954 in der Schweiz und mit 37 Jahren der älteste Spieler, der bis dahin je an einer Weltmeisterschaft teilnahm. Beim Viertelfinale und dem Sieg gegen England verletzte er sich und konnte nicht in dem legendären, knallharten Halbfinale gegen das Wunderteam aus Ungarn spielen. Uruguay verlor erst in der Verlängerung mit 2:4. Aber das Spiel hatte Ungarn enorm viel Kraft gekostet, die ihnen 72 Stunden später im Finale gegen Deutschland zum Schluss fehlte.

Aufgewachsen in ärmlichsten Verhältnissen in den dreckigen Portreros von Montevideo ruht Obdulio Varela nun im Celeste Olymp, dem Pantheon von Montevideo, wie alle Weltmeister-Helden von 1930 und 1950

Juan Schiaffino erzielt das 1:1 im Spiel gegen Brasilien. Er ruht in Montivideo neben all seinen Mitspielern „im Pantheon des los Olimpicos“, der Ruhmeshalle Uruguays.

Juan Alberto „Pepe“Schiaffino
Biografie

Geboren am 28.Juli 1925 in Montevideo
Gestorben am 13. November 2002 in Montevideo
Grabstätte: Cementerio del Bueco, Montevideo
Panteon des los Olimpicos
Avenida Gral Rivera, 3934
Stationen der Karriere als Fußballer
Position: Halbstürmer
Verein: Penarol Montevideo (1943-1954)
AC Mailand (1954-1960)
AS Rom (1960-1962)
Penarol Montevideo (07/1962-12/1962)
25 Länderspiele für Uruguay (1945- 1954); 11 Tore
4 Länderspiele für Italien (1954-1958)
Weltmeister 1950 mit Uruguay:
Uruguayischer Meister 1949, 1951, 1953, 1954
Italienischer Meister 1956, 1958, 1960
Italienischer Pokalsieger 1961

Alcides Edgardo Ghiggia
Biografie
Geboren am 22.12.1926 in Montevideo
Gestorben am 16.7.2015 in Las Piedras
Grabstätte: Montevideo, Cementerio de Buceo
Panteon de los Olimpicos
Avenida Gral. Rivera, 3934
Stationen der Karriere als Fußballer:
Position: Rechtsaußen
Vereine: Sud Amerika Montevideo (1944-1948)
 Penarol Montevideo (1948-1953)
AS Rom (1953-1961)
AC Mailand (1961-1962)
Danubio FC Montevideo (1962-1967)
Sud Amerika Montevideo (1968)
12 Länderspiele für Uruguay (1950-1952)
5 Länderspiele für Italien (1957-1959)

Alcides Ghiggia erzielt das 2:1 gegen Brasilien vor 200.000 Zuschauern im Maracana. Ghiggia ruht in Montevideo neben all seinen Mitspielern im „Pantheon de los Olimpicos“, der Ruhmeshalle Uruguays.

Uwe Morawe

Wenn 200.000 Puppen schweigen

Das kann doch nicht wahr sein. Obdulio Varela kam dieser Ohrwurm nicht aus dem Sinn. Blick auf den Wecker, 20 Minuten nach sechs. Die Nacht kaum geschlafen. Und dann doch bitte schön alles, aber nicht dieses Lied. Die berühmteste Samba der Welt: BRASIIIIL…dadadadadadadadaaa…dadadadadadadada…BRASIIIIL! Bauchlage, Seitenlage, Rückenlage, hoffnungslos. Halb sieben, der Kapitän Uruguays schälte sich aus dem Hotelbett. Beine vertreten, und vor allem den Kopf frei bekommen. Ba. ba.baaa…baba..bambambam!

Bereits jetzt vor dem Morgengrauen des 16. Juli 1950 war die Avenida Atlantica an der Copacabana voller Menschen. Menschen voll Vorfreude. Nur Obdulio Varela lief einen unpassenden Schlager summend mit Faust in der Tasche die Promenade hinunter. BRASIIIlL! Er fühlte sich wie ein Schaf auf dem Weg zur Schlachtbank. Das Schlachthaus hieß Maracana, der Termin war auf 15 Uhr angesetzt. Das letzte entscheidende Spiel der WM. Brasilien hatte in der Endrunde bambambam Samba getanzt und Spanien sowie Schweden mit 6:1 und 7:1 vom Parkett gefegt. Uruguay sich gegen dieselben Gegner zu einem 2:2 und einem späten 3:2 gequält. Gegen Schweden in Sao Paulo vor gerade mal 8.000 Zuschauern. Heute würden bei ihrer Hinrichtung über 200.000 im Stadion sein. Da sah er sie im Aushang eines Kioskes. Die heutigen Ausgaben der Zeitungen. BRASIL CAMPEAO! Varela fasste es nicht. Zornesader Hilfsausdruck. Die warteten das Spiel nicht einmal ab. Glaubten die denn, Uruguay wäre nur ein Fußabtreter, oder was?

Jenes stolze Uruguay, das die Weltturniere von 1924 bis 1930 dominiert hatte. Jenes tolerante Uruguay, in dem damals schon Schwarze und Weiße Seite an Seite Titel errangen, als sich in Brasilien Arthur Friedenreich, der einzige schwarze Fußballstar, bei Staatsempfängen noch weiße Kreide ins Gesicht schmieren und die Haare glätten musste.

Immerhin, der unerträgliche Ohrwurm war mit einem Schlag verschwunden. Eine halbe Stunde später versammelte Varela die gesamte Mannschaft auf seinem Hotelzimmer. Eine Ansprache war kaum nötig. El Negro Jefe, wie Varela respektvoll aufgrund seiner afrikanisch-spanischen Herkunft genannt wurde, öffnete nur das Badezimmer. Dort hatte der schwarze Chef 30 bis 40 Zeitungen ausgelegt. Jeder im Team wusste, was verlangt war. Einer für alle, alle für einen. Nacheinander holten die Spieler ihren persönlichen Degen heraus und urinierten auf die fette Schlagzeile. Varela als Letzter. Schon als kleiner Junge hatte er sich Geld als Zeitungsbote dazu verdient. Sein damaliger Boss hatte immer gemeint, dass einzig Wahre in einer Zeitung sei das Datum obendrauf. Sein damaliger Boss war ein kluger Mann.

Auf dem Weg ins Stadion musste im Mannschaftsbus jeder Einzelne immer wieder grinsen. Hatten sie das da eben wirklich gemacht? Varela spürte, diese Elf hatte nichts mit einer Schafherde gemeinsam. Die perfekte Mischung aus Entschlossenheit und Lockerheit. Eine Stunde noch bis zum Anpfiff. Der Vizepräsident des Fußballverbandes kam in die Kabine: „Lasst es nicht zur Katastrophe kommen. Drei oder vier Gegentore wären vertretbar, aber bitte keine sechs oder sieben, bitte!“ Als der rundliche Herr wieder draußen war, zischelte Mittelstürmer Miguez: „Was war denn das für’n Pisser!?“ Erneutes Dauergrinsen…

Letzte Teambesprechung. Trainer Juan Lopez wiederholte noch einmal die geplante Vorgehensweise. Hinten einigeln, die Brasilianer kommen lassen, vorne versuchen Ecken und Freistöße herauszuarbeiten. Bevor es raus ging noch ein Mannschaftskreis – und Kapitän Varela schmiss im letzten Moment alles um: „Unser Trainer Juancito ist ein guter Trainer. Aber heute liegt er falsch. Wenn wir defensiv spielen, werden wir untergehen wie alle anderen zuvor. Spielt mutig nach vorne. Und das Wichtigste: blendet die Kulisse aus. Das Publikum sind Schaufensterpuppen. Zugegeben, 200.000 Puppen, aber sie können Euch nichts tun.“ Die erste Hälfte verlief torlos. Brasilien spielte wie immer zu Hause ganz in Weiß. Doch der Wundersturm Jair/Ademir/Zizinho kam nicht wie gewohnt zur Geltung, bis zur 47. Minute. Führung der Brasilianer durch Friaca. Ein Jubelsturm, dass es das Hirn wegpustete. Varela revidierte sich, das waren keine Schaufensterpuppen.

Es galt, diese Kulisse wieder zu bändigen. Er, der in seiner gesamten Karriere immer mit offenem Visier gespielt hatte, bediente sich dieses eine Mal eines Hütchenspieler-Tricks. Die feiernden Brasilianer waren bereits Richtung Mittellinie unterwegs, der Ball noch im Tornetz. Den schnappte sich Varela jetzt. Er ging auf den englischen Schiedsrichter George Reader zu und laberte ihn theatralisch auf Spanisch voll. „Fuera de juego! Fuera de juego!“ Seine Annahme war richtig, der Mann verstand kein Wort. Varelas Grundkenntnisse in Englisch hätten für „Offside, Offside!“ schon noch gereicht. Darum ging es nicht, denn das Tor war meterweit kein Abseits gewesen.

Varela rückte den Ball nicht raus, wich keinen Deut von der Stelle, verlangte auf Spanisch einen Dolmetscher. Reader schwankte in seiner Einschätzung. Als seine gestenreiche Drohung, diesen uruguayischen Ochsen vom Platz zu stellen, nicht verfing, machte sich der Unparteiische auf die Suche nach einem Übersetzer. Die Angelegenheit dauerte gut fünf Minuten. Was? Der Kapitän der Urus hatte doch tatsächlich eine Abseitsstellung sehen wollen? So ein Quatsch!  Reader war beruhigt, er hatte definitiv keine Fehlentscheidung begangen. Beruhigt war auch das Publikum. Wie lange jubelt man ausgelassen über ein Tor? Eine Minute, zwei, maximal drei. Genau das hatte Varela einkalkuliert. Er war jetzt der Buhmann, wurde bei jeder Ballberührung ausgepfiffen. Aber diese Giftigkeit war allemal besser als Euphorie aus 200.000 Kehlen. Uruguay brauchte jetzt zwei Tore zum Titelgewinn und setzte alles auf eine Karte.

Sieh an, sieh an, die Brasilianer begannen zu wackeln. 66. Minute, Ausgleich durch Schiaffino. Und dann die 79. Minute. Rechtsaußen Alcides Ghiggia schießt aufs kurze Eck. 2:1 für Uruguay. Alcides Ghiggia war eigentlich immer nur ein Vorbereiter, Ghiggia hat in seiner gesamten Länderspielkarriere nur vier Tore erzielt. Alle bei der WM 1950, in jedem Spiel genau eins.

Ab da war es ein Kinderspiel, die Partie über die Bühne zu bringen. Die Brasilianer waren bewegungsunfähig wie Eidechsen unter fünf Grad. Der Schlusspfiff, Varela nahm Ghiggia auf die Schulter, hörte kurz die erlösenden Schreie der Kameraden – und sonst nichts. Es war so still, dass man selbst den brasilianischen Hörfunkreporter oben auf der Tribüne verstand. Irgendwie kam ihm diese Stimme sogar bekannt vor. Ansonsten Totenstille.

Nie ist ein WM-Titel im Stadion so wenig bejubelt worden. Die Sieger spendeten den Unterlegenen Trost. Bei der Siegerehrung drückte FIFA-Präsident Jules Rimet den Pokal Varela wortlos in die Hand. Brasilien trug Trauer. Zwei Menschen waren im Maracana einem Herzinfarkt erlegen, zwei weitere begingen Selbstmord. Die Selecao spielte nie wieder in Weiß. Als 1994 Torwart Barbosa die Nationalmannschaft im Trainingslager besuchen wollte, wurde er von den Trainern Parreira und Zagallo vom Gelände gejagt, weil er angeblich Unglück bringe – 44 Jahre später!

Obdulio Varela war da etwas feinfühliger. Der Weltmeister-Kapitän lud nach seinem Karriereende jedes Jahr die Spieler des Finales von 1950 zu seinem Geburtstag ein: die Uruguayer und die Brasilianer.

Grabstätte Obdulio Varela: Montevideo, Cementerio del Cerro

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