Rudolf Kreitlein

„Kill the Referee

Biografie
Geboren am 14. November 1919 in Fürth
Verstorben am 31. Juli 2012 in Stuttgart
Grabstätte: Stuttgart-Degerloch, Waldfriedhof 3, Abt. 14n

Am 30. November 2009 weilte der Schneidermeister Rudolf Kreitlein aus Stuttgart im Schloss Bellevue in Berlin, eingeladen zu einem Abendessen mit Bundespräsident Horst Köhler und dessen charmanten Gattin Eva Luise. Das Bundesverdienstkreuz am Bande hatte „das tapfere Schneiderlein“ bereits 1988 erhalten. Es gab vermutlich schwäbische Maultaschen oder fränkische Kartoffelklöße, die Lieblingsgerichte Rudolfs. Berliner Eisbein mit Sauerkraut und Erbspüree wahrscheinlich eher nicht. Kreitlein war nur 1,65 groß und 60 Kg schwer. Da ist ein solches Gericht schwer verdaulich. Als Schiedsrichter wirkte er wahrlich nicht furchteinflößend, aber er konnte sich durchsetzen, wenn das Spiel es erforderte.

Die Einladung war eine Würdigung des fast 93jährigen Referees, der nicht nur hohe Verdienste um den deutschen Fußball, sondern auch den internationalen erworben hatte. Kreitlein war ein engagierter Förderer der Idee, die Vergabe von Gelben (Yellow, take it easy) und Roten Karten (Stop! You’re off) einzuführen, um stärkere Hilfsmittel in der Hand zu haben (außer der Polizei), renitente und Rudel bildende Spieler oder Blut-Grätscher wie Vinnie Jones, genannt „die Axt“, mit Gelb zu disziplinieren oder rauszuschmeißen (Rot), wenn Blut floß oder Knochenbrüche auf der Tribüne zu hören waren. 1970 führte die FIFA den „Fußball a la Carte“ ein.

Das war ursprünglich eine Idee des englischen Schiedsrichters Ken Aston (1966 Vorsitzender der FIFA Schiedsrichterkommission) rund um die Ereignisse eines Spiels, bei dem Rudolf Kreitlein einen beherzten Auftritt als Schiri des Viertelfinales der WM am 23. Juli 1966 in London zwischen England und Argentinien (1:0) hatte. Linienrichter waren ein gewisser Gottfried Dienst aus der Schweiz und ein gewisser Istvan Zsolt aus Ungarn. Letzterer hatte als Schiedsrichter fast einen Krieg 1958 zwischen Deutschland und dem neutralen Schweden ausgelöst, als die Wikinger den amtierenden Weltmeister Deutschland im Halbfinale der WM mit 3:1 schlugen. Zsolt löste mit sehr umstrittenen Entscheidungen zu Gunsten der Gastgeber in der „Schlacht von Göteborg“ einen Schwedenhass in Deutschland aus wie seit dem Dreißigjährigen Krieg nicht mehr. Kollege Dienst setzte noch einen drauf. Kreitlein konnte beim Spiel der Engländer gegen die Argentinier nicht wissen, was sein Linienrichter Gottfried Dienst sieben Tage später noch anrichten würde. Als Schiedsrichter des WM-Finales 1966 zwischen England und Deutschland (4:2 n.V.) erkannte Dienst das berühmte Wembley-Tor von Geoff Hurst zum 3:2 für England an. 85 Millionen Deutsche waren und sind bis heute der Überzeugung, dass der Ball nicht drin war. Nur Bundespräsident Heinrich Lübke sah den Ball „im Netz zappeln“.

Übrigens war Kreitlein als Schiedsrichter für das WM-Finale vorgesehen, vorausgesetzt, Deutschland ist nicht Finalist. Aber Deutschland erreichte das Endspiel gegen England. Der hämische Kommentar der Daily Mail am Tag nach Englands Sieg (4:2 n.V). “Two World Wars, One World Cup”. Aber der Fußballgott vergisst so etwas nicht und verschafft den unterlegenen Teams mit Hilfe der Referees irgendwann einmal süße Rache und späte Genugtuung.

  1. Womöglich hätte es den Krieg 1982 zwischen Argentinien und England um die kargen Falklandinseln mit ihren vielen Schafen und 2.840 Bewohnern im südlichen Atlantik nicht gegeben, wenn Kreitlein den Argentinier Antonio Rattin nicht vom Platz gestellt hätte und die „Gauchos“ in das Halbfinale eingezogen wären. Die Annexion der Falkland-Inseln 1982 durch Argentinien war eine Art Revanche für 1966. Ging völlig daneben. Margaret Hilda Thatcher zeigte Flagge für das Vereinigte Königreich und schmiss die Argentinier wieder von den Inseln.  Die Schafe hatten wieder ihre Ruhe, bis heute.
  2. Die wirkliche Revanche Argentiniens war die „Hand Gottes“ von Diego Maradona im Viertelfinale Argentinien gegen England bei der WM 1986 (2:1). Erneut griff ein Schiedsrichter in die Weltgeschichte ein, diesmal der tunesische Schiedsrichter Ali Bin Nasser. Er gab das wohl berühmteste „Nicht-Tor“ der Fußballgeschichte. Der Fußballgott hatte mitgespielt. Argentinien konnte die Falkland-Niederlage ausgleichen. Es stand jetzt Unentschieden zwischen den beiden Nationen.
  3. Argentinien ging im weiteren Wettstreit mit England zwölf Jahre später wieder in Führung, in Saint Etienne bei der WM 1998 in Frankreich, diesmal im Achtelfinale. Schiedsrichter Kim Milton Nielsen aus Dänemark schickte David Beckham in der 47. Minute nach einem harmlosen Foul (Tritt in die Wade von Diego Simeone, der einiges aushält, bis heute) vom Platz. Rot! Rudolf Kreitlein hatte wohl auf der Couch in Stuttgart sitzend seine Freude! Ken Aston, der in Ilford bei London zuschaute, war hin und her gerissen. Die Rote Karte, sein Kind, aber gegen einen Engländer, seine Nation. England verlor mit 3:4 im Elfmeterschießen.
  4. Die Rache für das Wembley-Tor 1966 hatte der Fußballgott für den 27. Juni 2010 bei der WM in Südafrika im Free State Stadium von Bloemfontein vorgesehen.

Der Unparteiische Jorge Larrionda aus Uruguay gab beim Stande von 2:1 für Deutschland ein Tor für England nicht. Der Ball schlug nach einem Schuss von Frank Lampard so was von eindeutig hinter Manuel Neuer ein und hätte das 2:2 bedeutet. England verlor mit 1:4. „Du bist ein nutzloser Referee“ titelte das Boulevardblatt „The Sun“ am Folgetag. „Das ist eine schändliche Entscheidung, die das Spiel verändert hat“!

Kill the Referee!

Uwe Morawe
1966 Wembley-Tor, Ampel und raue Sitten

Bremsenquietschen, Hupgeräusche, die Stirn leicht an der Windschutzscheibe angeschlagen. Ansonsten war nichts passiert. Knappe Kiste. Ken Aston hatte im allerletzten Moment noch die rote Ampel gesehen an der Kensington High Street, eine der befahrensten Kreuzungen Londons. Vollbremsung, gerade noch rechtzeitig. Beinahe wäre dem wohlerzogenen Engländer ein „Fuck Off“ über die Lippen gegangen. Natürlich nur beinah.

Ken Aston war seit seinem Karriereende als FIFA-Referee oberster Schiedsrichterbeobachter bei der WM 1966. In seiner Branche galt er als Tüftler. Schon Ende der 40er Jahre hatte er die Anregung gegeben, die Linienrichter im englischen Profifußball mit grellgelben Fahnen auszustatten. Vorher wedelten die Linesmen kleine dunkle Wimpel der jeweiligen Heimatvereine durch die Luft. Nun mit dem gelben Stoff konnte das Publikum viel schneller erkennen, wenn auf Abseits entschieden worden war. Das machte das Spiel schneller und transparenter. Ähnliches war nun wieder vonnöten. Und genau darüber hatte Ken Aston gegrübelt, als er bei Rot fast über die Kreuzung bretterte.

Gestern beim Viertelfinale zwischen England und Argentinien hatten sich unwürdige Szenen abgespielt. Auf der Tribüne von Wembley musste Aston mitansehen, wie der deutsche Schiedsrichter Rudolf Kreitlein versuchte, dem Argentinier Antonio Rattin einen Platzverweis auszusprechen. Wegen Beleidigung, obwohl Kreitlein kein Wort Spanisch verstand. Da standen sie nun Brust an Brust. Oder besser, Brust an Hüfte. Kreitlein ein Einmetersechzigmännchen, Rattin ein Schrank von Mann. Der Gaucho schaute von oben auf die Halbglatze des Unparteiischen und weigerte sich, den Platz zu verlassen. Mit rudernden Armbewegungen versuchte Kreitlein den Spieler hinauszuschicken. Der bewegte sich keinen Zentimeter. Die Szenerie dauerte gut fünf Minuten, bis Polizisten Antonio Rattin vom Feld führten. Nach Ende des Spiels hatte Kreitlein einen Kreislaufkollaps erlitten und Englands Trainer Alf Ramsey seinen Spielern den Trikottausch mit den Argentiniern untersagt. Die Argentinier seien „Animals“, unwürdig ein Jersey mit den drei Löwen zu erhalten, so Ramsey auf der anschließenden Pressekonferenz. Ähnliches war fast zeitgleich bei der Partie Deutschland gegen Uruguay geschehen. Endlose Diskussionen nach Platzverweisen. Beim Abgang hatte der hinausgestellte Troche Uwe Seeler noch eine schallende Ohrfeige verpasst. Das Problem war, dass die Spieler einen auf doof machen konnten, weil es kein für alle verständliches und sichtbares Signal gab, dass jemand des Feldes verwiesen worden war. „Ich nix verstehe, was du wolle, kleiner Mann in schwarz, äh.“

Unter starkem Polizeischutz verlässt der deutsche Schiedsrichter Rudolf Kreitlein (mit Ball) am 23.06.1966 das Spielfeld das Londoner Wembleystadions, neben ihm Ken Aston

Quelle Foto: wikimedia.org

Aston kannte sich aus in diesen Angelegenheiten. Schon sein Mentor George Reader hatte ihm erzählt, wie im WM-Finale 1950 der Kapitän Uruguays, Obdulio Varela, den Ball minutenlang nicht herausgerückt hatte. Reader glaubte bis heute an Sprachbarriere und Missverständnis. Aston hatte da seine Zweifel und meinte, Varela habe den gutgläubigen Reader verarscht. Er selbst, Kenneth Aston, war zur Lachnummer des Weltfußballs verkommen, als er vor vier Jahren zwischen wildgewordene Chilenen und Italiener geriet. Das Geräusch wird er ein Leben lang nicht vergessen, das den Faustschlag von Leonel Sanchez begleitete, mit dem er dem Italiener Maschio das Nasenbein brach. Aston hatte zwei Meter danebengestanden und Sanchez dennoch nicht hinausgestellt. Aus Angst, purer körperlicher Angst, die Spieler würden ihn krankenhausreif schlagen. Die Bilder vom schreckhaften Schiedsrichter gingen um die Welt.

Immer wieder waren es die interkontinentalen Duelle, die außer Kontrolle gerieten. Wird in Südamerika oder in Europa der bessere Fußball gespielt? Diese offene Frage führte zu offenen Schienbeinbrüchen. Ungarn-Brasilien 1954, Italien-Chile 1962, die Jagdszenen gegen Pele durch die Bulgaren und Portugiesen in der Vorrunde 1966. Was in der Politik nicht gelingen wollte, war im Fußball ein Phänomen geworden: einzelne Nationen und sogar Vereinsmannschaften sahen sich als Vertreter ihres jeweiligen Kontinents. Und mittendrin hilflose Schiedsrichter, die ihre Entscheidungen den Spielern und dem Publikum nicht deutlich vermitteln konnten. So, die Ampel schaltete auf Grün. Ken Aston legte den ersten Gang ein, fuhr jedoch nicht los, sondern starrte auf die Ampel. Es machte Klick! Gelb als letzte Warnung, dann Signalfarbe Rot! Die Sprache des Straßenverkehrs war universell, die verstand jeder, die war überall gleich auf der Welt. Es machte Klick! Ken Aston hatte mitten in der Rush Hour Londons die Gelben und Roten Karten erfunden.

Bereits vier Jahre später bei der WM 1970 kamen die Karten zum Einsatz. Im Nachhinein lustig zu sehen, wie Publikum und Spieler vor allem auf die Gelben Karten reagierten. Gelb war damals fast schon Rot – mehr als 2x pro Partie wurde der Karton nie gezückt, da ging ein Raunen durchs weite Rund, Junge Junge! Die Einführung der Karten machte die Spiele schneller und flüssiger und sie zeigte tatsächlich therapeutische Wirkung. 1962 waren sechs Spieler vom Platz geflogen, 1966 noch fünf, 1970 sah nur ein einziger Akteur die Rote Karte: der deutsche Masseur Erich Deuser, der vorschnell auf den Platz gelaufen war, obwohl das Spiel noch lief.

Ken Aston wartete später noch mit einer weiteren Neuerung im Schiedsrichterwesen auf. Die Nummerntafeln, die anzeigen, wer ausgewechselt wird, gehen ebenfalls auf ihn zurück.

Grabstätte von Rudolf Kreitlein: Stuttgart-Degerloch, Waldfriedhof 3, Abt. 14 n

Quelle Foto: wikimedia.org

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