Josef „Sepp“ Herberger
„Der Chef„
Mit dem Länderspiel Deutschland gegen Schottland am 12. Mai 1964 in Hannover, das 2:2 endete, verabschiedete sich Sepp Herberger als Trainer der deutschen Nationalmannschaft. Seine Fußballbiografie steht für vierzig dramatische Jahre der deutschen Geschichte, von der Weimarer Republik über die furchtbaren Irrungen und Wirrungen der Nazizeit und die mörderischen Jahre des Zweiten Weltkriegs bis zu den Jahren des Wiederaufbaus und des Wirtschaftswunders.
Sein Schaffen als Trainer lässt sich in drei Phasen einteilen. Zunächst war es „Fußball unterm Hakenkreuz“, seine sicherlich schwierigste Aufgabe. Herberger musste eine Nationalmannschaft unter extremen politischen Rahmenbedingungen für das sogenannte Großdeutschland spielen lassen und im wahrsten Sinne des Wortes ab 1941 das Überleben seiner Nationalspieler im Krieg sichern.
Die zweite Phase begann unmittelbar nach dem Krieg, als er wieder – noch ohne Funktion – über die Fußballplätze des besetzten Landes streifte und im Wirrwarr der Zonenligen nach seinen alten Spielern und neuen Talenten suchte. Denn Herberger hatte die Vision, möglichst schnell in sein früheres Amt als Nationaltrainer zurückzukehren und eine Mannschaft aufzubauen, die das neue, andere, demokratische Deutschland glaubwürdig im Ausland repräsentieren sollte. Als der DFB ihn am 3. Oktober 1949 zum Bundestrainer berief, brauchte Sepp Herberger fünf Jahre, um mit dem Triumph von Bern 1954 diese Phase erfolgreich abzuschließen, die den Menschen im geteilten Deutschland viel Selbstwertgefühl zurückgab und ihnen auch die Achtung des Auslandes einbrachte.
Danach stand er vor einer erneuten Herausforderung, die ganz anders war als die, die er schon bewältigt hatte. Jetzt galt es, die in der Bevölkerung und in den Medien sehr schnell gestiegenen Erwartungen zu befriedigen, dass es mit den Titeln so weitergehe, und zugleich mit den egoistischer, selbstbewusster und liberaler werdenden Spielern klarzukommen. Beides war neu für Herberger. Das Profitum warf seine Schatten voraus, und die Sportpresse stand schärfer als früher im Wettbewerb um Auflagen, was einen härteren Umgang mit Trainer und Mannschaft mit sich brachte. Aber auch diese Aufgabe bewältigte er souverän und hielt die Nationalmannschaft – bis auf eine schwächere Phase Mitte der 50er Jahre – immer in der Weltspitze. Sein Nachfolger Helmut Schön übernahm von ihm 1964 eine sehr gute Mannschaft. Im WM-Endspiel 1966 gegen England standen sieben Spieler in der DFB-Elf, die bereits unter Herberger gespielt hatten.
Was war das für ein Mann, der in ärmsten Verhältnissen im Mannheimer Industrieviertel Waldhof aufwuchs und mit ungeheurer Zähigkeit, Geduld, Flexibilität und psychologischem Geschick die bis dahin wichtigste Figur in der Geschichte des deutschen Fußballs wurde? Der Herberger- Biograf Jürgen Leinemann charakterisiert ihn so: „Er war kein Intellektueller – ganz und gar nicht. Als Wertekorsett hielten er und seine Fans sich an die kleinbürgerlichen Formaltugenden des wilhelminischen Kaiserreichs. In dieser heilen Welt standen oben und unten, Verdienst und Leistung, Sparsamkeit, Fleiß und Tüchtigkeit auf der einen und bescheidenes Glück auf der anderen Seite immer in einem vernünftigen gott- und obrigkeitsgewollten Verhältnis zueinander.“ Das Leben hatte ihn gewitzt gemacht, listig, schlau, opportunistisch, giftig und bockbeinig. Das prägte sein Verhalten. Horst Eckel schrieb: „Er war rätselhaft. Ich habe ihn nie richtig lachen gesehen. Auch nach unserem Endspielsieg hat er nicht gejubelt. Er hat sich gefreut, mehr aber auch nicht.“
„Er war rätselhaft. Ich habe ihn nie richtig lachen gesehen“
Nach dem Desaster bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin, als die deutsche Nationalmannschaft vor den Augen Hitlers durch ein 0:2 gegen Norwegen aus dem Wettbewerb ausschied, wurde Herberger zum Nachfolger von Reichstrainer Otto Nerz ernannt. Am 1.9.1936 übernahm er eine gute Mannschaft, die er konsequent weiterentwickelte. Seinem Team, das als „Breslau-Elf “ in die Annalen des deutschen Fußballs einging, traute man den Titel bei der anstehenden Fußball-WM 1938 in Frankreich zu.
Herbergers Pech war der „Anschluss“ Österreichs im März 1938. Die Politik verfügte, dass eine „großdeutsche Mannschaft“ in Frankreich anzutreten habe, und gab gleich die Formel 6+5 vor, also sechs Spieler aus dem Altreich, fünf aus der neuen „Ostmark“, wie Österreich jetzt hieß. Herberger befand sich mit seiner „Breslau-Elf “ bereits in der Vorbereitung auf die am 4. Juni beginnende WM, als er komplett umplanen und eine ganz neue Mannschaft aufbauen musste. Wiener Walzer traf auf preußische Marschmusik. Das konnte angesichts der landsmannschaftlichen Aversionen innerhalb des Kaders nicht gut gehen. Hier wuchs nichts zusammen, weil es nicht zusammengehörte, und der WM-Auftritt war entsprechend kurz. „Großdeutschland“ scheiterte gleich am ersten Gegner, der Schweiz.
Damit war Herbergers Traum vom Titel für lange Zeit vorbei. Der bald beginnende Weltkrieg machte ihn nur noch zum Verwalter der Nationalmannschaft. Es gab keine Gegner mehr, außer jenen Ländern, die der Achse Berlin-Rom angehörten, besetzt oder neutral waren. Er setzte alle Hebel in Bewegung, um Kontakt zu seinen Nationalspielern, die der Wehrmacht angehörten, zu halten. Dank enormer Kreativität und guter Vernetzung war Herberger recht erfolgreich im Bemühen, seine Spieler vor dem Einsatz an der Front zu bewahren oder durch Einladungen zu Lehrgängen zumindest temporär aus der permanenten Lebensgefahr zu befreien. Der Volksmund fand für diese Hintergrundaktivitäten den schönen Begriff „Aktion Heldenklau“. Sie gelang nicht immer, einige Spieler starben an der Front. Am 22. November 1942 löste sich die Nationalmannschaft nach dem Länderspiel gegen die Slowakei in Pressburg auf. Angesichts des Weltenbrandes war kein internationaler Spielbetrieb mehr möglich.
Auf den Tag genau acht Jahre später kehrte Deutschland mit dem neuen Bundestrainer Sepp Herberger wieder auf die europäische Fußballbühne zurück. Die Schweiz löste den Bann. Am 22.11.1950 gewann Deutschland in Stuttgart mit 1:0 gegen die Eidgenossen. Mit Jakob Streitle, Anderl Kupfer und Fritz Walter standen nur noch drei Spieler, die bis 1942 gespielt hatten, im Kader. Herberger war vor allem glücklich, den mittlerweile bereits dreißig Jahre alten Fritz Walter dabei zu haben. Zu dem mannschaftsdienlichen Regisseur hatte er seit 1940, als er den Pfälzer erstmals in der Nationalmannschaft einsetzte, ein Vater-Sohn-Verhältnis entwickelt. Sein Ziel war, endlich frei von politischen Zwängen um diesen genialen Spieler eine Mannschaft aufzubauen, die das Zeug zum Weltmeistertitel haben würde. Er stellte Fritz Walter Spieler zur Seite, von denen nicht unbedingt jeder zwingend ins Nationalteam gehörte, die sich aber mit dem Mannschaftskapitän blind verstanden und dessen herausragende Rolle in der Mannschaft akzeptierten.
Die Bedingungen, unter denen Herberger damals seine Mannschaften zusammenstellte, muten heute geradezu archaisch an. Es gab kein Fernsehen, keine Videoanalyse, sondern nur die Möglichkeit, die in Frage kommenden Spieler vor Ort zu beobachten, was aber aufgrund der schwierigen Straßenverhältnisse und begrenzten Flugmöglichkeiten der Nachkriegszeit manchmal schwer zu bewerkstelligen war. Über die Vereinstrainer versuchte er sich Informationen über die aktuelle Form seiner Kandidaten zu verschaffen. Viele Trainingslehrgänge auf regionaler Ebene trugen zu weiteren Erkenntnissen bei, die er dann in Form brieflicher Trainingsanweisungen an die Spieler weitergab. Aus dem Defizit fehlender Transparenz erklärt sich wohl auch die Blockbildung aus fünf Kaiserslauterer Spielern (F. Walter, O. Walter, Liebrich, Eckel, Kohlmeyer), mit denen Herberger trotz mancher Kritik die Fußball-WM 1954 anging. Kaiserslautern war nicht so weit von seinem Wohnort Weinheim entfernt, sodass er die Spieler leichter beobachten konnte, und mit Fritz Walter hatte er einen kompetenten Informanten über die Form der Mitspieler.
Der Titelgewinn von Bern war natürlich die Krönung seines bereits damals sehr langen Trainerlebens und gab auch reichlich Stoff zur Legendenbildung. Aber Herberger hatte keinerlei Absicht, sich zurückzuziehen. Er wollte beweisen, dass in Bern kein Wunder geschehen war, sondern der Weltmeistertitel durch höchst irdische Trainerkünste zustande gekommen war. Gemäß seinem Credo „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel“ ging er nach der WM 1954 daran, eine neue Mannschaft um seinen geliebten Fritz Walter aufzubauen. Das war auch nötig, denn der Alltag hatte spätestens im Herbst 1954 in der Nationalmannschaft Einzug gehalten. Einige Spieler aus dem Schweiz-Kader erkrankten an Gelbsucht, andere hatten altersbedingt keine großen Perspektiven mehr, und der eine oder andere Weltmeister war immer noch dabei, den Triumph von Bern zu feiern. Die Länderspielbilanz der Jahre 1955 und 1956 war enttäuschend, aber je näher die WM 1958 kam, desto konstanter wurden die Leistungen, und Deutschland, das sich als Titelverteidiger nicht qualifizieren musste, fuhr als Mitfavorit nach Schweden. Die Weltmeister Fritz Walter, Rahn, Schäfer und Eckel gaben der neuen Mannschaft das Gefüge. Spieler wie Uwe Seeler, Schnellinger, Herkenrath und Juskowiak repräsentierten die neue Generation.
Deutschland spielte ein hervorragendes Turnier und scheiterte erst im Halbfinale am Gastgeber Schweden, ein Spiel, das in den deutschen Schlagzeilen zur „Hölle von Göteborg“ wurde. In einer überhitzten Atmosphäre verlor die Mannschaft recht unglücklich mit 1:3. Auslöser waren der Platzverweis von Juskowiak beim Stand von 1:1 und die anschließende schwere Verletzung Fritz Walters, die zu seinem Ausfall führte. Da es damals noch keine Auswechslungen gab, musste die Mannschaft bis zum Schlusspfiff praktisch mit neun Spielern auskommen. Aber Herberger hatte bewiesen, dass der Titel von Bern kein Zufall war. Die Vorstellung 1954 in der Schweiz wurde als eleganter gewertet, die 58er in der Gesamtleistung als höher eingeschätzt.
Trotz der Enttäuschung über das Ausscheiden, für das er vor allem Juskowiak verantwortlich machte, begann sich Herberger sofort auf die nächste WM 1962 in Chile vorzubereiten. Man mag es kaum glauben, er plante weiter mit Fritz Walter, obwohl der endgültig seinen Rücktritt aus der Nationalmannschaft erklärt hatte. Spieltaktisch aber waren neue Systeme und andere Spieler gefragt. Das Sicherheitsdenken hielt Einzug im europäischen Fußball und kulminierte im Catenaccio. Der fast 42-jährige Fritz Walter hatte mehr Einsicht in die Grenzen körperlicher Leistungsfähigkeit als sein väterlicher Freund und stand zu seinem Rücktritt. In Uwe Seeler fand Herberger schließlich doch einen neuen, sympathischen Leader für die DFB-Elf, die sich souverän für Chile qualifizierte.
Dort fand dann eine Weltmeisterschaft der Maurer statt. Eng verbunden mit der Philosophie, Tore zu verhindern, wurde eine körperliche Härte praktiziert, die gelegentlich in Brutalität gipfelte. Deutschland wurde Erster in der schweren Vorrundengruppe B vor Chile, Italien und der Schweiz. Im Viertelfinale traf man auf einen alten WM-Bekannten, Jugoslawien, zum dritten Mal hintereinander. Erstmals siegte der Gegner vom Balkan, und Herberger musste enttäuscht feststellen, dass Deutschland statt Gala-Anzug nur Konfektionskleidung getragen hatte.
Jetzt hätte er zurücktreten sollen, um als Fußballweiser aus der Distanz seinen geliebten Sport zu beobachten, seine Autobiografie zu schreiben und als beliebter Ehrengast seine Popularität zu genießen. Aber nein: Er machte weiter, obwohl er mit der neuen Spielergeneration nicht mehr zurechtkam. Lukrative Engagements bei ausländischen Vereinen, Widerworte, längere Haare, das war nicht mehr seine Welt. 1964 übergab er das Amt widerwillig an seinen langjährigen Assistenten Helmut Schön. Fritz Walter wäre ihm als Nachfolger lieber gewesen.
Sepp Herberger starb vier Wochen nach seinem 80. Geburtstag. Am 27. April 1977 erlitt er während der Fernsehübertragung eines Länderspiels gegen Nordirland seinen, nach 1975, zweiten Herzinfarkt und starb einen Tag später. Bei der Beisetzung trugen die „Helden von Bern“ seinen Sarg. Rechts Max Morlock, Helmut Rahn und Werner Liebrich, links Karl Mai, Hans Schäfer und Horst Eckel. Vorneweg schritt Uwe Seeler mit dem Ordenskissen, dahinter folgte Fritz Walter dem „Chef “. Der unermüdliche Tüftler und Taktiker ruht nun auf dem am Hang gelegenen Friedhof von Hohensachsen an der Bergstraße und schaut auf die Rheinebene hinunter Richtung Mannheim, von wo aus er sich aufmachte, den deutschen Fußball in die Weltspitze zu führen.
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