Ronald „Ron“ Yeats

Der Koloss von Anfield

Biografie
Geboren am 15. November 1937 in Aberdeen
Gestorben am 6. September 2024 in Liverpool

Stationen der Karriere als Spieler
Aberdeen Lads Club (1955-1957)
Dundee United (1957-1961)
FC Liverpool (1961 -1971)
Tranmere Rovers (1971-1974)
Barrow AFC (1975-1976)
Los Angeles Skyhawks (1976)
Barrow AFC (1976-1977)
Formby FC (1977)
Rhyl FC (1077-1978)
Englischer Meister 1964, 1966
Englischer Pokalsieger 1965
ASL-Meister (USA) 1976
2 Länderspiele für Schottland

Der 20. Januar 2007 in Liverpool war kühl und grau. Ein kalter Wind wehte vom Mersey River in die Innenstadt. In der Mathew Street liefen bereits am Vormittag trotz der sehr frischen Temperaturen viele leichtbekleidete, unbescholtene Liverpoolerinnen auf und ab auf der Suche nach einem geeigneten Gesprächspartner für den Samstagabend in den vielen Pubs und Discos. Wie sagte schon der Kabarettist Gerhard Polt: “Die Engländer san zach!“ Im „Flanagan‘s Apple Pub“ war schon am Vormittag bei teurem Bier die Vorfreude der heimischen Fußballfans auf das am frühen Nachmittag stattfindende Match des FC Liverpool gegen den FC Chelsea zu spüren. Anderthalb Jahre vorher hatten die „Reds“ in einer denkwürdigen Nacht im Mai 2005 in Istanbul gegen den AC Mailand nach einem 0:3 Rückstand noch die Champions-League gewonnen. Und an der Seitenlinie würde heute Nachmittag der „Stadtheilige“, Coach Rafa Benitez, stehen und das Subjekt wunderbarer Lobgesänge sein. Der gegnerische Coach Jose Mourinho hingegen wusste, dass ihn wunderbare Schmähgesänge der „Liverpudlians“ erwarteten. Vor und nach dem Spiel fanden sich einige Privilegierte in der VIP-Lounge des Hauptsponsors, der dänischen Carlsberg-Brauerei, ein. Alan Kennedy (Torschütze zum 1:0 beim Triumph Liverpools am 27. Mai 1981 im Europapokalfinale der Landesmeister in Paris gegen Real Madrid) moderierte den Abend. Es herrschte Jeans-Verbot, das Essen war grausam schlecht, das Carlsberg Lager hingegen gut. In den Gesprächen nach dem Spiel fiel plötzlich irgendwo der Name Ron Yeats. Das brachte die Runde der Privilegierten inclusive Ian Rush, Alan Kennedy und John Aldridge kurz zum Verstummen. Und dann tauchte Ron Yeats wie aus dem Nichts auf. Euphemistisch. Über 1,92 Meter groß, in der Wahrnehmung des Autors noch größer, füllte er mit strahlender Wärme, Lachen und Statur den VIP-Raum. Und Rons Händedruck hatte noch immer die Wirkung eines Schraubstockes.

Foto: Edgar Wangen, Ron Yeats und Eugen Unterstrasser

Es entspann sich ein Gespräch, das sehr harmonisch verlief, bis der Autor auf den 5. Mai 1966 im Glasgower Hampden Park zu sprechen kam. Ron Yeats wurde plötzlich einsilbig und bestellte noch ein Carlsberg Lager. Da wusste der Autor, dass er besser geschwiegen hätte. Als die strenge Chefin der VIP-Loge zum Ende der Veranstaltung aufrief und die Aufhebung des Jeans-Verbotes-ankündigte, meinte Ron im Einverständnis mit John Aldridge und David Fairclough, der sich dazu gesellt hatte, dass man weiterhin Durst habe und in einem nahegelegenen Pub noch das eine oder andere Pint versenken wolle. Ian Rush wäre noch gerne mitgegangen, hatte aber Hochzeitstag. Da geht man besser heim. Bruce David Grobbelaar hätte auch gerne die gesellige Gruppe begleitet, war aber vom Genuss vieler Carlsberg Lager zu angeschlagen. Gegen 21.00 Uhr, am Tresen des Pubs mit einem Pint Guinness stehend, vermeldete Ron Yeats plötzlich nach einem Anruf seiner Frau: „Oh, my wife called, I must go home! Otherwise, Margaret will cause trouble. „John Aldrigde und David Fairclough kannten das schon und zeigten Verständnis. Ron Yeats, der Koloss von Anfield, verschwand „immediately“. Was Frauen so alles unmittelbar bewegen können, auch Kolosse!

Die Trainerlegende Bill Shankly und sein verlängerter Arm auf dem Spielfeld, Ron Yeats, haben bis heute bei den „Liverpudlians“ den Status der Begründer des Liverpool-Mythos, trotz Steven Gerrard! Bill Shankly war bei der Verpflichtung seines schottischen Landsmannes von dessen Größe und Wucht äusserst beeindruckt. „6 Feet three“ stellte er ihn den Sport-Journalisten vor und ermunterte sie: „Geht in die Kabine und lauft um ihn herum! He is a Colossus“!

Foto: Endlich Champion
Quelle Foto: Liverpool FC

Shankly, seit 1959 Trainer des Zweitligisten FC Liverpool, verpflichtete den 23-jährigen Verteidiger von Dundee United, ohne ihn jemals beobachtet zu haben. Er kannte ihn nur vom Hörensagen. Die Scouts waren damals eine noch fehlende Berufsgruppe im internationalen Fußball. Doch Shankly hatte ein Gespür für Spieler, die in seine Mannschaft passten, wie viele Jahre später Jürgen Klopp! Shanks zu Ron: „Wenn du unterschreibst, mein Sohn, dann spielen wir im nächsten Jahr in der First Division“. Ron Yeats, der Schlachtergeselle aus Aberdeen, unterschrieb. Und Shankly hatte seinen Leitwolf gefunden, der die Mannschaft so beseelte, dass der FC Liverpool parallel zum musikalischen Aufstieg der „Beatles“ die Stadt am Mersey River in den Blickpunkt der weltweiten medialen Berichterstattung rückte.

Shankly (siehe Einzelporträt) als Coach und Ron Yeats als Spieler und Kapitän schufen aus einem in der zweiten Liga herum dümpelnden Team (die klare Nummer 1 in Liverpool war damals der FC Everton) einen Club, der heute symbolhaft für die englische Fußball -und Fankultur steht. Und all die Coaches der vergangenen 60 Jahre (neben Shankly sein Nachfolger Bob Paisley, Kenny Dalglish, Rafa Benitez oder jüngst Jürgen Klopp) verkörpern dieses gesellschaftliche Phänomen, mit Hilfe des Fußballs Menschen für 90 Minuten zu begeistern, bevor sie glücklich nach dem Spiel den nächsten Pub und die nächste Arbeitswoche ansteuern.

In jedes Lexikon der Fußballgeschichte der 60er Jahre gehören zwei Europapokal-Spiele des FC Liverpool mit Kapitän Ron Yeats gegen eine deutsche Mannschaft.

Foto: Der „Münzwurf“ von Rotterdam 1965.
Quelle Foto: Wikimedia Commons

Zum einen der „Münzwurf“von Rotterdam. Am 24. März 1965 standen sich der deutsche Meister 1. FC Köln und der englische Meister FC Liverpool im Viertelfinale des Europapokals der Landesmeister in einem Entscheidungsspiel gegenüber. Das gab es damals noch, wenn es nach Hin- und Rückspiel unentschieden stand. Nach zweimal 0:0 fand dieses dritte entscheidende Spiel im ausverkauften Stadion „de Kuip“ statt. Die reguläre Spielzeit endete mit 2:2 und der Fight ging in die Verlängerung. Sie endete torlos. Nun musste das Los in Form einer rot-weissen Plastikplakette entscheiden. Es war gar keine Münze. Kapitän Yeats wählte natürlich rot, Kölns Mannschaftsführer Hans Sturm zeigte logischerweise auf weiss, die Kölner „Trikotfarbe“. Der belgische Schiedsrichters Robert Schaut warf die Scheibe hoch, die Blicke gingen nach oben und fuhren nach unten. Der WDR-Reporter schrie ins Mikrofon: „Ron Yeats greift sich verzweifelt an den Kopf! Verloren! Nein! Der Wurf wird wiederholt“. Die Plakette war senkrecht im morastigen Boden stecken geblieben. Die unbarmherzige Prozedur, auf diese quälerische Art ein großartiges Fußballspiel zu entscheiden, ging weiter.

Neuer Versuch von Schaut. Jetzt erbarmte sich der Fußballgott der erschöpften Spieler. Der rote Teil der Plakette lag auf dem Rasen wie ein Springteufel, zumindest aus Sicht der Kölner. Sieg des FC Liverpool und Einzug ins Halbfinale gegen Inter Mailand. Der Kölner Außenläufer Wolfgang Weber, ein Jahr später erneut tragischer Verlierer, diesmal im WM-Finale 1966 in Wembley gegen England (2:4.n. V.), beobachtete die Münzwurfdramatik vom Spielfeldrand aus und hielt sich sein rechtes Bein. Von der 20. Minute an hatte er bis zum Schlusspfiff der Verlängerung mit einem Wadenbeinbruch gespielt. In einem Interview fünfzig Jahre später meinte er lapidar: “Wenn dieses Spiel etwas Gutes hatte, dann die Einführung des Elfmeterschießens als Konsequenz“. Aber es dauerte noch, denn erst Anfang der 1970er Jahre haben DFB, UEFA und FIFA die Spielentscheidung ohne Münzwurf weltweit eingeführt und seitdem der Fußballwelt viele dramatische Spielentscheidungen beschert.

Die ausgleichende Gerechtigkeit für den deutschen Vereinsfußball folgte am 5. Mai 1966 im Finale des Europapokals der Pokalsieger im Glasgower „Hampden-Park“. Nach Eintracht Frankfurt (1960) und 1860 München (1965) stand erneut eine deutsche Mannschaft in einem Europacupfinale. Die beiden Endspiele vorher gingen verloren. Frankfurt gegen Real Madrid (3:7) und 1860 München gegen West Ham United (0:2). Diesmal traf Borussia Dortmund auf den FC Liverpool. Und Kapitän der Liverpooler war wie immer Ron Yeats. Er war sicher, heute erstmalig einen europäischen Pokal für den FC Liverpool in den regnerischen Himmel Glasgows zu stemmen. Bill Shankly hatte in den letzten Jahren eine großartige Mannschaft geformt und die war klarer Favorit. Aber nach 90 Minuten stand es 1:1 durch Tore von Sigi Held und Roger Hunt, die sich zwei Monate später im WM-Finale 1966 erneut begegnen sollten. Dann kam die 106. Minute. Sigi Held nimmt einen Steilpass von Aki Schmidt auf und schießt an der Strafraumgrenze Liverpools Torhüter Tommy Lawrence, wegen seiner Rundlichkeit „the flying pig“, das fliegende Schwein genannt, an. Der Ball prallt Stan Libuda vor die Füße, was bei ihm folgenden Gedankengang auslöste: “Ich sah, wie der Ball abprallte, ich sah ihn kommen. Ich sah mit dem linken Auge das leere Tor, da habe ich abgezogen. Und wie der Ball in der Luft war, spürte ich: der geht rein“. Das fliegende Schwein Tommy Lawrence flog zu langsam zurück. Ernst Huberty als TV-Kommentator des Finales schrie: „Libudas Ball senkt sich ins Tor! Ins Tor! Ins Tor!“

Von wegen! Das Flugobjekt prallte an den linken Pfosten und von da auf den Oberschenkel des vierschrötigen Ron Yeats. Der fiel slapstickmäßig mit dem Ball ins Tor und verfing sich wie ein großer schottischer Silberlachs im Gewirr von stramm gespannten Fischernetzen. Als der „Koloss von Anfield“ sich nach einiger Zeit aus den Tornetzen auf der linken Seite des Hampden-Parks herausgeschält hatte, war das Spiel gelaufen. „Ohne den Abwehrspieler wäre der Ball nicht reingegangen „kommentierte später Sigi Held diese spielentscheidende Szene. Borussia Dortmund feierte den größten Fußballtriumph einer deutschen Mannschaft nach dem „Wunder von Bern“1954.

Bill Shankly und Ron Yeats bildeten eine Symbiose, die nicht nur den englischen Fußball inspirierte. Über den Fußball hinaus schufen sie den Mythos „Anfield Road“, eine Rundumerneuerung des 1892 gegründeten Clubs. Bis zur Saison 1964/65 trug das Team blau-weiße Jerseys mit marineblauen Hosen und Stutzen. Shankly verordnete auch wegen einer deutlicheren Abgrenzung zum Stadtrivalen FC Everton ein komplett rotes Trikot. Es ging weiter mit Psychotricks. Wenn die gegnerischen Mannschaften die Kabine verließen, mussten sie einen engen Tunnel auf ihrem Weg zum Spielfeld passieren. Shankly persönlich veranlasste die Installation eines Emaille- Schildes am Tunneleingang mit der Drohung: „This is Anfield“. Und die Einschüchterung ging weiter. Die gegnerischen Spieler hörten bereits die Schlachtgesänge, ähnlich den Posaunen von Jericho, und sind ein fußballerisches Beispiel der Kriegsführung mit Lautstärke.

Foto: Ohne Worte
Quelle Foto: Wikimedia Commons

Der Tunnel war der Vorhof zur Hölle, wie in Dantes Göttlicher Komödie. „Ihr, die ihr eintretet, lasset alle Hoffnung fahren“. Und draußen stand zwar nicht der Koloss von Rhodos, aber der von Anfield. Der hünenhafte Ron Yeats.

Damit nicht genug. Der Fußballgott schüttete hormongeschwängert angesichts seiner Begeisterung über diesen Club zusätzlich sein Füllhorn guter Ideen aus. „The Kop“ wurde zur Mutter aller Stehtribünen dieser Welt und die inbrünstig gesungene Fußball-Hymne der Fans schlechthin, „you never walk alone“, ist heute eigentlich immaterielles Weltkulturerbe. Man sollte seitens des FC Liverpool diese Auszeichnung bald bei der UNESCO beantragen, bevor Borussia Dortmund auf die gleiche Idee kommt. Die Südtribüne Dortmunds (Schwatz-Gelb) kann sich sehen lassen, aber die Fußball-Hymne des FC Liverpool im Ruhrgebiet zu singen ist kulturelle Aneignung, zumal bei gelegentlichen Fremdsprachdefiziten der Fans. Die durch Dortmund fließende Emscher, die nach 83 km Fließstrecke bei Dinslaken in den Rhein mündet, hat zudem wenig Gemeinsamkeiten mit dem Mersey River und dem von dort wehenden Geruch des atlantischen Ozeans. Die Borussen sollten dem FC Liverpool diese Hymne der Band „Gerry and the Pacemakers“ überlassen und eher das Lied anstimmen. „Am Borsigplatz bin ich geboren“!

Die Einwohner Liverpools konnten in den 60er Jahren stolz auf die großartigen Impulse sein, die aus dieser Industrie- und Hafenstadt kommend den internationalen Fußball und die Welt der Musik bestimmten. Hier Bill Shankly und Ron Yeats, der die „Reds“ in 417 Spielen aufs Feld führte. Und da die „Beatles“ Paul Mc Cartney, John Lennon, George Harrison und Ringo Starr, die mit ihrer Musik Auslöser einer Selbstbefreiung der Jugend aus der puritanisch bigotten, konservativen Nachkriegszeit Englands und bald auch des Kontinents wurden.

Foto: Gedenken an Ron Yeats in „Anfield Road“ am
Quelle Foto:

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