Hendrik Johannes „Johan“ Cruyff
„El Salvador, der Erlöser“
„Gevatter Tod“ interessiert sich nicht sehr für die Lebensleistungen oder die Talente von Menschen. Denn sonst hätte er viele geniale Menschen nicht so früh zu sich gerufen. Elvis Presley, Jim Morrison, Jimi Hendrix , Janis Joplin, Bobby Moore, Paolo Rossi, Gaetano Scirea, Ayrton Senna oder Steve Jobs. „Wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben“ (Titus Maccius Plautus, 250-184 v. Chr.). Auch Johan Cruyff verstarb zu früh, obwohl er als kettenrauchender Fußballer und Trainer die Sargnägel selbst zimmerte.
2008, als Pep Guardiola Trainer des FC Barcelona wurde, adelte er seinen Entdecker und Förderer. “Cryuff hat uns die Kathedrale erbaut, wir erhalten sie nur“. So wie Antonio Gaudi die „Sagrada Familia“ in Barcelona konstruierte und mit dem Bau begann. Die Kathedrale ist bis heute nicht fertig. Aber das ist nicht wichtig. Beide, Cruyff und Gaudi legten die Grundlagen für großartige und generationenübergreifende Kunstwerke. Der eine für den schönen Fußball, der die Fußball-Fans in Entzücken versetzt, der andere für die Modernisme, die katalanische Jugendstil-Architektur, der man staunend und ergriffen gegenübersteht.
Johan Cruyff war der fußballerische Erbe von Alfredo Di Stefano, dem Lenker des „großen Spiels“ von Real Madrid in den 50er Jahren. Beider Credo war: Wie knacke ich eine Abwehr? Wo sind deren Schwachstellen, um sie zu durchstoßen? Den Schwerpunkt des Angriffs auf die Stelle zu konzentrieren, wo der Feldherr und seine Kundschafter die vermeintlichen Schwächen des Gegners ausgemacht haben. Wie Hannibal während der „Schlacht von Cannae“ am 2. August 216 v.Chr. gegen die Römer oder Napoleon bei der „Dreikaiser-Schlacht von Austerlitz“ gegen Österreich und Russland am 2. Dezember 1805. Ähnlich operierten die Generale Heinz Guderian und Erwin Rommel beim Durchbruch ihrer Panzerdivisionen nahe Sedan und Dinant über die Maas während des Westfeldzuges gegen Frankreich am 15. Mai 1940. Auch die großen Spielmacher und Fußball-Trainer sind Generalstäbler bei der Entwicklung und Umsetzung ihrer Spielideen. Und sie brauchen dafür die Offiziere und Soldaten, die ihrer Strategie und den taktischen Anweisungen folgen ohne ihre Individualität am Kleiderhaken der Kabine aufzuhängen. Die Historie des Fußballs ist ein Kaleidoskop dieser besonderen Konstellation von großartigen Trainern und kongenialen Mannschaften.
Zwei Fußballer prägten mit ihrer Weltklasse den Fußball der 70er Jahre: Franz Beckenbauer und Johan Cruyff. Sie leiteten einen gewaltigen fußballerischen Umbruch ein nach all den Jahren des Catenaccios und körperbetonten Spiels. So wie Beethoven unter dem Einfluss der französischen Revolution ein völlig neues Musikverständnis entstehen ließ und ein Spiegel seiner Zeit, des Frühkapitalismus wurde, mit all seinem Können, seiner Ohnmacht und all seiner Wut. So entsprangen Beckenbauer und Cruyff der 68er Bewegung. Sie leiteten eine „schöpferische Zerstörung“ des bis dahin praktizierten europäischen Fußballs der 60er Jahre ein. Technisch exzellent, angriffslustig und selbstbewusst, mit wehenden Haaren und dem Hemd aus der Hose. Der Bayer mit seiner Interpretation des „freien Mannes“, des Liberos, der Nordholländer aus Amsterdam als Lenker des Besitzfußballs. Beckenbauer verstand es, die Mannschaft aus seiner Position –hinter dem Schutzschild „Katsche“ Schwarzenbeck –zu dirigieren; er brachte das Orchester zum Klingen. Cruyff hingegen spielte immer selbst die Hauptrolle, den Dirigenten mit feldherrlichem Fingerzeig bei ausgestrecktem Arm und zusätzlich als erster Geiger. Die größeren Erfolge hatte der Münchner aus dem Stadtteil Giesing. Er wurde Europameister und Weltmeister. Diese Titel blieben Johan Cryuff versagt. Beckenbauer brachte es nach dem WM-Finale 1974 lapidar auf den Punkt: „Johan war der bessere Spieler, aber ich bin Weltmeister“. Der Kaiser steht über dem König. Aber vier Jahre später bei der WM 1978 hätten die Niederlande mit Cruyff den Titel in Argentinien gewonnen. Im Fußball ist der Konjunktiv gemacht für Verlierer. Cruyff hatte nach Querelen auf die Teilnahme an der WM verzichtet. Das hat man ihm in seinem Heimatland übel genommen. Die „Elftal“ war so nahe am Titelgewinn und verlor erst in der Verlängerung des Finales gegen Argentinien mit 1:3.
Es gibt bisher nur ein WM-Finale, in dem der spätere Weltmeister sein erstes Tor kassierte, ohne ein einziges Mal den Ball berührt zu haben. Das passierte der deutschen Nationalmannschaft in München am 7. Juli 1974 um 16.01 im Finale gegen die Niederlande, die nach eigenem Anstoß den Ball über 13 Stationen ohne Feindberührung zu Johan Cruyff brachten. Wie ein Habicht stieß der nach der Ballannahme (die 14. Station) aus dem Mittelfeld vor, ließ den für ihn vorgesehenen Mann-Decker Berti Vogts wie einen Schulbuben stehen und drang in den deutschen Strafraum ein, wo ihn Uli Hoeneß, der nachts vorher noch Fieber hatte, abgrätschte. Schiedsrichter Taylor gab Foulelfmeter, Johan Neeskens führte aus, trat beim Schuss aber so in den Rasen, dass der Kalk staubte und jagte den Ball in die Mitte des Tores. Seine Absicht beim Anlauf jedoch war, den Ball hart halbhoch links zu schießen. Sepp Maier wusste von dieser Schussvariante aufgrund eines Elfmeters, den Neeskens in der Vorrunde so verwandelt hatte. Deshalb warf er sich in diese Richtung. Als er das Leder aus seinem Kasten holte war dies die erste deutsche Ballberührung. Panenka machte den „Elfer in die Mitte“ 1976 im Finale der Europameisterschaft zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei dann salonfähig. Nur war sein Schlenzer in die Mitte geplant. Im Tor stand erneut Sepp Maier.
Die Niederländer wollten Deutschland im Finale 1974 demütigen, rund 30 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und der als extrem feindlich empfundenen deutschen Besatzung. „Wir wollten uns einen Spaß mit den Deutschen machen, sie erniedrigen, das hat sie wütend gemacht“, gab später Rechtsaußen Jonny Rep unumwunden zu. „Wir haben uns die Niederlage selbst zuzuschreiben“ resümierte Rep. Hass ist kein guter Ratgeber, und „der Hass war immer da“, bestätigte Halbstürmer Wim van Hanegem von Feyenoord Rotterdam die Einstellung, mit der die Mannschaft aus ihrem Quartier, dem Hotel Krautkrämer in Münster, nach München fuhr. Und Trainer Rinus Michels leistete zusätzlich einen Beitrag zur Grundstimmung: „Wir holen uns unsere Fahrräder zurück“. Die Niederländer waren zu arrogant –auch in der Vorbereitung – in das Finale gegangen.
Cryuff schilderte diese Revanche-Gelüste viele Jahre später und konstatierte ebenfalls Überheblichkeit und mangelnde Professionalität. „Während die Westdeutschen sich optimal vorbereiteten, ließ es Oranje ruhig angehen. Eigentlich war das Ziel schon erreicht. Eine gründliche Analyse des deutschen Spiels gab es nicht“. Die erste Vorbesprechung von Rinus Michels mit der Mannschaft fand am Vormittag des Finales in München statt. „ Und dann ging es schief. Das Tor fiel zu früh. Wir dachten, was sollte jetzt noch passieren“? Die 1:2 Niederlage wurde zum Trauma des 20. Jahrhunderts für Oranje, sieht man von der deutschen Besatzung von 1940 bis 1944 und der Flutkatastrophe von 1953 ab, schrieb der Dramatiker Johan Timmers.
Der „Voetbal total“ der „Elftal“ von 1974 verlor zwar diese Schlacht gegen die Teutonen, aber blieb in den Köpfen erhalten. Wie eine Religion, -jeder stürmt, jeder verteidigt- verbreitete sich dieser Ajax-Stil des 4-3-3 auf den Fußballplätzen Europas und Johan Cruyff war später als Trainer, wie die Apostel Petrus und Paulus, Prediger und Umsetzer dieses Spielstils. Und sein Petersdom wurde Camp Nou, die Heimstätte des FC Barcelona.
Cruyffs Eltern führten in einem der weniger attraktiven Stadtteile Amsterdams einen Gemüseladen. Hier korrelieren Beckenbauers und Cruyffs Biografien. Die Herkunft und der frühe Verlust des Vaters. Als der kleine Johan zwölf Jahre alt war, starb der Vater. Seine Mutter gab das Geschäft auf und arbeitete fortan als Putzfrau im Olympia-Stadion, der damaligen Heimstätte von Ajax Amsterdam. Im Umfeld der Fußballer wuchs Johan Cruyff auf -wie ein Bauernsohn im Stall oder ein Fischerjunge auf dem Boot- . Er schaute seinen Idolen beim Training zu und saugte alles Wissenswerte auf. Mit 13 Jahren verließ er die Schule, um „Fußball-Profi“ zu werden. Er kam in die Hände von Trainer Rinus Michels, der um das offensichtlich große Talent ab Mitte der 60er Jahre die Mannschaft von Ajax Amsterdam aufbaute. Damit verbunden entstand auch das Rückgrat des „Oranjeteams“ bzw. der „Elftal“, wie landessprachlich die Nationalmannschaft genannt wird. Schon 1969 erreichte das noch junge Team von Ajax mit Barry Hulshoff, Wim Suurbier, Piet Keizer und Johan Cruyff das Finale um den Europapokal der Landesmeister, das allerdings mit 1:4 gegen den AC Mailand verloren ging. Die Mannschaft war noch zu grün hinter den Ohren. Aber dann kam die große Zeit des holländischen „Voetball total“. Die Weltmeisterschaft in Deutschland sollte unter Trainer Rinus Michels der Höhepunkt dieser goldenen Generation werden. Die Entgegennahme des WM-Pokals nach dem Finale in München war als Krönungszeremonie für „König Johan“ vorgesehen. Zur Zeremonie kam es nicht. Die Niederlande litten lange an dieser Niederlage, bis zum 21.Juni 1988, dem EM-Halbfinale gegen Deutschland in Hamburg. In einem von beiden Seiten sehr aggressiv geführten Spiel gewannen die „Elftal“ mit 2: 1. Torhüter Hans van Breukelen nutzte das Ergebnis auch zu einer Abrechnung mit Cruyff:“ Das Spiel gegen Deutschland war für uns eine Gelegenheit, das Gemecker von Cruyff endlich mal wegzudrücken, denn die haben nie gegen Deutschland gewonnen. Deshalb war ich so motiviert, bis aufs Messer.“ Ronald Koeman missbrauchte nach dem Sieg das Trikot von Olaf Thon, um sich damit demonstrativ den Hintern abzuwischen. Diese Motivationslage der Holländer hielt noch weitere zwei Jahre bis zum WM-Achtelfinale am 24. Juni 1990 im Meazza-Stadion von Mailand, als Deutschland die Niederlande mit 2:1 schlug. Es war ein erneut sehr aggressiv geprägtes Spiel mit der legendären Spuckattacke von Frank Rijkaard gegen Rudi Völler und den anschließenden Platzverweisen für die beiden Kontrahenten. Das hat wohl das Spiel entschieden, denn der Verlust von Rijkaard als Scharnier des holländischen Spiels wog schwerer als das Fehlen von Rudi Völler, weil Jürgen Klinsmann das Spiel seines Lebens machte und für Völler mitspielte.
Zurück zu Johan Cruyff und Ajax Amsterdam. Mittel-und Nordeuropas Offensive auf den größten Vereinstitel Europas, den Europapokal der Landesmeister, begann bereits 1967 mit rauen Winden aus den schottischen Highlands. Die „Lisboa Lions“ von Celtic Glasgow, eine Außenstelle des Vatikans in Schottland, gewannen gegen die hohen Favoriten von Inter Mailand am 25. Mai 1967 in Lissabon überraschend den Titel. Aber ab 1970 wehte der Wind nunmehr vom Ärmelkanal in die Stadien des europäischen Kontinents. Feyenoord Rotterdam leitete diese neue Ära ein. Einerseits calvinistisch disziplinierte Spielweise, andererseits katholisch barocke Spiellust unter dem Trainer Ernst Happel aus Wien. Feyenoord, ein Stadtteil Rotterdams, gewann den Europapokal der Landesmeister 1970 gegen Celtic Glasgow. Und die folgenden Jahre triumphierte dreimal in Folge Ajax Amsterdam, bevor sich Bayern München ebenfalls dreimal hintereinander die europäische Krone aufsetzte. Die Sterne des Südens, seien es Real Madrid, Benfica Lissabon, AC Mailand oder Inter Mailand, verblassten für längere Zeit, weil nach Ajax Amsterdam und Bayern München die große Zeit der englischen Clubs begann mit dem FC Liverpool, Nottingham Forrest und Aston Villa, die von 1977 bis 1982 die Spitze des europäischen Vereinsfußballs bildeten.
Cruyffs Einfluss auf die heutige Spielweise der Topteams, gesegnet mit begnadeten Technikern, anderen Bällen und Fußballschuhen, ist offensichtlich. Die atemberaubende Geschwindigkeit und Kontrolle, mit der der FC Barcelona unter Pep Guardiola seine Gegner zerlegte, der heutige Hochgeschwindigkeits-Fußball des FC Bayern, des FC Liverpool oder der von Manchester City sind eine Folge seiner Auffassung vom professionellen Fußballspiel. Seine Idee vom Fußball, sei es als Spieler, Trainer oder Vereins-Manager hat mittlerweile Generationen von Trainern und Spielern geprägt. Wie Albert Einstein die Physik des 20. Jahrhunderts beeinflusste oder wie Bill Gates, Jeff Bezos und Steve Jobs die digitale Welt einläuteten.
Cruyff war dünn wie ein Toastbrot, schnell und filigran wie ein Ballett-Tänzer. Er brachte eine glasklare Ordnung ins Spiel. Sein Trainer Rinus Michels schuf die mannschaftlichen Voraussetzungen für ein Weltorchester. Aber er brauchte für seine Idee vom Spiel einen „verlängerten Arm“ auf dem Spielfeld. Und der war Johan Cryuff, ein Rohdiamant, geschliffen in den Hinterhöfen Amsterdams und von Michels veredelt. Der Habitus des Emporkömmlings war selbstbewusst bis zur Arroganz mit einem selbstverständlichen Führungsanspruch, so wie ihn die Statue vor der „Johan Cruyff-Foundation“ am alten Olympia-Stadion von Amsterdam, da wo alles begann, abbildet. Michels und Cruyff schufen einen schön anzuschauenden Offensivfußball, wie ihn nicht einmal Real Madrid in seiner großen Zeit praktizierte. Bei Real war es die Klasse der Einzelspieler, vor allem im Sturm, bei Ajax Amsterdam und der niederländischen Nationalmannschaft hingegen das Kollektiv mit brillanten Einzelkönnern, die sich dem Feldherrn unterordneten. Trainer Max Merkel, Meister in der Kunst der beißenden Kurzcharakterisierung brachte es auf den Punkt: „Falls Cryuff einmal in seiner Mannschaft die Todesstrafe einführt, findet das bestimmt jeder recht so.“ Arie Haan, sein Wegbegleiter durch die goldene Ära des holländischen Fußballs, beschrieb den Einfluss Cruyffs auf seine Mitspieler sehr plastisch: „Furchtbar, wenn er einmal fehlte. Es war, als spielten wir ohne Kopf“. Cruyff vollzog liquide Bewegungen. Im schnellen Lauf konnte er sich tot stellen und dann blitzschnell in eine andere Richtung schwenken. Die Gegner, unter anderem Berti Vogts 1974, schauten verwundert hinterher. Cruyff war längst woanders, als sie ihn vermuteten. Ein holländischer Choreograph verglich ihn mit dem großen Tänzer Rudi Nurejew. Mehr geht nicht! Er machte den Houdini (Entfesselungskünstler), wie man im amerikanischen sagt. Cruyff schaffte er es immer wieder, sich mit dem Ball am Fuß der Bewachung seiner Gegenspieler zu entziehen. Er brauchte nichts anderes um sich herum als ein athletisches und konditionsstarkes Team. Die Mitspieler mussten schnell sein und eine rasche Auffassungsgabe besitzen. Alles andere erledigte er selbst und bereitete seine Tore im Mittelfeld bis zum endgültigen Torschuss vor. Die Mannschaft von 1974 erfüllte all diese Kriterien, allerdings fehlte verletzungsbedingt Vorstopper Barry Hulshoff von Ajax Amsterdam. Mit ihm wären die Niederlande wohl Weltmeister geworden. Der Konjunktiv der Verlierer.
Sein treuer Sancho Pansa war Johan Neeskens, flankiert von Jonny Rep, Piet Keizer, Ruud Krol , Arie Haan und dem deutschen Libero Horst Blankenburg. Der gewann zwar dreimal den Europapokal der Landesmeister mit Ajax Amsterdam, aber bekam nie eine Einladung für die deutsche Nationalmannschaft. Das muss man sich leisten können. Klar, wenn man Franz Beckenbauer hat. Blankenburg war der Garant deutscher Disziplin in der Ajax-Abwehr, während vorne die Post abging. Michels und Cruyff formten Ajax Amsterdam zur führenden Mannschaft Europas zu Beginn der 70er Jahre und schufen gleichzeitig das Gerüst der Nationalmannschaft, ergänzt um Spieler von Feyenoord Rotterdam und dem PSV Eindhoven. 1973 wechselte Rinus Michels zum FC Barcelona. Der „mes que un Club“ hatte seit vierzehn Jahre keine spanische Meisterschaft mehr gewonnen. Rinus Michels erhielt den Auftrag, den Club zu revolutionieren. Dafür brauchte er aber einen Fidel Castro oder einen Che Guevara auf dem Spielfeld, der seine Ideen vom „Voetbal total““ wie zuvor bei Ajax Amsterdam umsetzen konnte. Sein Lenker und Denker auf dem Spielfeld war erneut Johan Cruyff wie die Jahre vorher. Nach dem Gewinn des Europapokals der Landesmeister 1973 mit Ajax gegen Juventus Turin (1:0) verließ Cruyff die Niederlande und wechselte zu seinem Mentor nach Barcelona. Die von seinem nicht gerade umgänglichen Genie genervten Mitspieler von Ajax hatten ihn als Mannschaftsführer abgewählt. Das war für ihn eine Majestätsbeleidigung. Die Barca -Fans dankten ihm den Wohnortwechsel. Cruyff wurde gleich „el Salvador“, der Erlöser. Die drei Millionen Gulden als Ablöse – die damalige Rekordsumme weltweit- könnten auch eine Rolle gespielt haben, um von der stürmischen Nordsee an die warme Mittelmeerküste zu wechseln. Von Matjes zu Gambas al Ajillo. Und der Holländer erfüllte alle Sehnsüchte der Katalanen und des FC Barcelona, der „epischen Waffe eines Landes ohne Staat“ (Montalban). Am 17. Februar 1974 läutete der FC Barcelona mit einem 5:0 Sieg bei Real Madrid einen Prozess ein, den Millionen in Spanien als den Niedergang der faschistischen Diktatur empfanden. Manuel Vazquez Montalban dichtete: “ 1:0 für Barcelona – 2:0 für Katalunien – 3:0 für Sant Jordi – 4:0 für die Demokratie – 5:0 gegen Madrid.“ Johan Cruyff erreichte in diesen 90 Minuten auf dem Rasen des Estadio Santiago Bernabeu mehr für das Nationalgefühl der Katalanen als die meisten Politiker vor ihm. Am 20. November 1975 starb Franco. Auf Barcelonas Straßen fand ein Volksfest statt. Es begann die Phase der „Transicion“. Abgeschlossen ist sie immer noch nicht, wenn man die emotionsgeladenen Duelle zwischen Real und dem FC Barcelona oder die separatistischen Bestrebungen der Katalanen verfolgt. Man hat dem Niederländer, der sogar seinen Sohn gegen viele Widerstände auf den Namen des katalanischen Nationalheiligen Jordi taufen ließ, bis heute nicht vergessen, was er für diese Stadt und die so eigenständige Region geleistet hat. Das ist das Faszinierende am Fußball jener Tage. Die Geschichte wird zeigen, ob Spieler wie Messi, Neymar, Suarez, Piquet, Pujol, Busquets, Xavi oder Iniesta auch für eine „Transicion“ stehen. Zlatan Ibrahimovic oder Samuel Eto’o eher weniger.
Wie als Spieler, so war Cruyff auch als Trainer brillant. Er schuf in Barcelona einen Spielstil, der immer noch gültig ist . Der offensive Besitzfußball. Mit Spielern wie Pep Guardiola, Ronald Koeman, Michael Laudrup und Hristo Stoichkow führte er den FC Barcelona an die Spitze des europäischen Fußballs. Ebenso bedeutsam aber war, dass er mit den Jugend-Akademien in Barcelona (la Masia) und später bei Ajax Amsterdam die Grundlagen legte für die Ausbildung künftiger Weltklassespieler, unter anderem Piquet, Iniesta, Xavi, Messi, van Basten, Rijkard oder Dennis Bergkamp und sowie die in diesem System arbeitenden Trainer mit seinen Ideen infizierte. Pep Guardiola, Arsene Wenger und Louis van Gaal (Cruyff und van Gaal waren spinnefeind wie zwei Alphamännchen) sind die Paradebeispiele für diesen Cruyff’schen Spielstil und haben mit ihren verschiedenen Vereinen (FC Barcelona, Bayern München, Manchester City, Arsenal London, Ajax Amsterdam) den europäischen Vereinsfußball und indirekt auch den Stil mancher Nationalmannschaften geprägt. „Rennt nicht so viel. Fußball gewinnt man mit dem Kopf“ war seine Lehre. Er wirkte als Experte, Missionar und Philosoph. Selbst Arrigo Sacchi bezeichnete sich als Cruyffs Schüler und trainierte Ende der 80er Jahre das damals beste Team der Welt, den AC Mailand mit seinen holländischen Weltklassespielern Ruud Gullit, Frank Rijkaard und Marco van Basten. Was mögen Trainer wie Julian Nagelsmann, Thomas Tuchel oder Mauricio Pochettino heutzutage über diese Spielphilosophie denken? Wahrscheinlich: Cruyff ist unser Albert Einstein! In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung 2020 antwortete Trainer Peter Bosz von Bayer Leverkusen auf die Frage nach dem Unterschied zwischen dem holländischen und deutschen Fußball, dass Johan Cruyff den attraktiven niederländischen Stil sehr geprägt habe, auch die Taktik der Trainer. „Er hatte diese Art, über Fußball zu sprechen, die einen immer zum Nachdenken brachte. Er hat seinen Assistenten Toni Bruins zum Beispiel einmal vor dem Champions-League Finale 1992 zwischen Barcelona gegen Sampdoria Genua zur Gegnerbeobachtung geschickt. Bruins kam zurück und sagte: „Die haben da diesen Stürmer, Gianluca Vialli, den kann man nicht decken“. Und Cruyff sagte einfach nur:“ Okay, dann decken wir ihn eben nicht“. Toni widersprach: „Das ist der beste Spieler, den die haben“, doch Johan blieb dabei: Einen Stürmer, den in der Liga mit den besten Defensivmannschaften niemand decken kann, den decken wir nicht. Wie so oft war er gedanklich schon einen Schritt weiter: Vialli war ein Spieler, der einen Gegner spüren wollte, der Körperkontakt im Rücken brauchte, um sich zu orientieren. Also hat ihn im Finale tatsächlich niemand gedeckt und man hat ihn nicht gesehen“. Cryuff: „Wenn die gegnerische Mannschaft einen intelligenten Spieler hat, der sich gut freiläuft, wählen wir immer die einfachste Lösung: Wenn ihn niemand deckt, kann er sich nicht freilaufen“. Ähnlich stellte er seinen Spieler Bryan Roy vor einem Europapokalspiel gegen den HSV auf das Duell mit Manni Kaltz ein: „Bryan, du kannst ohnehin nicht verteidigen. Also vergesse Kaltz und stürme ständig nach vorn. Beschäftige ihn! Irgendwann wird er schon aufhören mit seinen Flankenläufen“: Roy spielte eine Weltklassepartie.
Als Cruyff seine Trainerkarriere 1996 beendete blieb er die graue Eminenz des FC Barcelona und des niederländischen Fußballs. Cruyff war der Pontifex Maximus des modernen, schönen Fußballs. Er entwickelte eine Geometrie als Grundmuster der Bewegungen seiner Spieler, immer mit dem richtigen Abstand und Winkel zueinander, mit fließender Übernahme vakanter Positionen und ständiger Ausrichtung auf den Ball hin. Wie ein Gemälde von Piet Mondrian, dem Meister des niederländischen Konstruktivismus.