Jose Leandro Andrade

„Das schwarze Wunder“

Biografie:
Geboren am 20.11.1898 in Salto/Uruguay
Gestorben am 5.10.1957 in Montevideo/Uruguay
Grabstätte: Montevideo; Cementerio de Buceo
Panteon de los Olimpicos
Avendida Gral. Rivera 3934
Stationen der Karriere als Fußballer
Position: Außenläufer
CA Penarol Montevideo (1914-1920)
Miramar Misiones Montevideo (1921)
CA Bellavista Montevideo (1922)
Reformers FC Montevideo (1923)
CA Bella Vista Montevideo (1924)
Club Nacional Montevideo (1925-1931)
CA Penarol Montevideo (1932-1935)
CA Atlanta Buenos Aires 1936
Argentinos Juniors Buenos Aires 1936
Montevideo Wanderers 1937
Weltmeister 1930
Olympiasieger 1924, 1928
34 Länderspiele (1922-1933)
Uruguayischer Meister 1932

Der deutsche Sportjournalist Franz Richter lebte in den 20er und 30er Jahren in Montevideo und schrieb für hiesige Zeitungen, auch über die erstmalig stattfindende Fußball-Weltmeisterschaft 1930 in Uruguay. Beim Spiel Uruguay gegen Jugoslawien (6:1), dem Halbfinale am 27. Juli 1930, wurde Richter zum ersten Mal auf Jose Leandro Andrade aufmerksam und formulierte im damaligen Sprachgebrauch: „Bei den Läufern der Urus vertrat ein waschechter Neger namens Andrade die exotische Note mit seiner Couleur. Aber der Mann kann mehr als nur dadurch die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Ein zielbewussteres, taktisch vollendetes Spiel lässt sich kaum denken. Sein fabelhaftes Können rief spontanen Beifall hervor.“  Weiter hieß es: “Der lange Andrade fällt durch sein bevorzugtes Kopfball-Spiel auf. Die Neger scheinen Schädel wie Kokos-Nüsse zu haben!“ Wie man liest. Die Erde dreht sich, die Sprache verändert sich. Ein ähnlicher Kommentar inklusive Spieler-Beschreibungen während des Finales der Champions-League 2020 zwischen Bayern München und Paris St. Germain hätte gewaltige mediale, wenn nicht sogar politische Eruptionen ausgelöst.

Jose Leandro Andrade war der Urvater aller Eckfahnentänzer. Er erblickte in Salto, einer Stadt am Rio de la Plata mit 100.000 Einwohnern das Licht der Welt. Am 24. Januar 1987 wurde auch in Salto ein gewisser Luiz Suarez geboren, drei Wochen später, am 14. Februar 1987, folgte ihm ein gewisser Edinson Cavani. Beide kamen, wie der Dichter Eduardo Galiani einst schrieb, mit einem Torschrei auf den Lippen auf die Welt. Andrade, Suarez und Cavani stehen symbolhaft für ein Land, das weniger Einwohner als Berlin hat und neben vielen anderen Rekorden 15 mal Südamerika-Meister war und zwei mal Weltmeister wurde. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung kurz vor der WM in Katar formulierte Cavani die Besonderheit dieser fußballerischen Ausnahmeerscheinung als Nation. „Unsere Identität beruht auf Arbeit und Aufopferung. Arrogante, egoistische Spieler haben bei uns kein Ansehen“. Und: „Wir weichen nie zurück“.

Als Sohn eines ehemaligen kubanischen Sklaven wuchs Andrade nach einem Tapetenwechsel im Hafenviertel Barrio Sur y Palermo von Montevideo auf, einem Ghetto der Farbigen. Bevor er der erste Superstar des Fußballs wurde glänzte er dort als Tänzer und führte eine Karneval-Showgruppe, die sich stolz „Die armen kubanischen Neger „nannte. Bereits während und nach dem Olympiasieg mit Uruguays Nationalmannschaft 1924 in Paris zeigte er seine Weltklasse, neben dem Fußball auch im Tanz. Anders als seine Kollegen, die per Schiff nach Montevideo zurückreisten, blieb er einige Monate in Paris. Eingeladen von Gönnerinnen entzückte er als Tänzer in den Pariser Varietes rund um die Place Pigalle die weiblichen Bohemiens und beglückte sie als Gigolo, mit Zylinder, Seidentuch und einem Spazierstock mit Silberknauf in der Hand. Er erreichte eine ähnliche Popularität wie Josephine Baker, die vice versa bei den männlichen Bohemiens Hormonschübe auslöste. Die französische Dichterin Colette, ein häufiger Gast in den Etablissements unterhalb des Montmartre, schrieb in „Le Matin“: „Uruguayer sind eine eigenartige Mischung aus Zivilisation und Barbarei. Wenn sie den Tango tanzen, sind sie wundervoll, sublim, besser als der beste Gigolo. Aber sie tanzen auch afrikanische Kannibalen-Tänze, die einen frösteln machen.“ Colette war nicht irgendwer. Sie erhielt als erste Frau in Frankreich ein Staatsbegräbnis.

Andrade war nun der erste Superstar des Fußballs und tanzte Rasentango. Dank ihm wurde Uruguay, das kleine Land am Rio de la Plata, 1928 in Amsterdam erneut Olympiasieger und der fußballerische Dominator jener Zeit, als der internationale Fußball das Laufen lernte. Die „Urus“ spielten einen Fußball, wie man ihn in Europa bis dahin noch nicht gesehen hatte. Mit ihren spontanen Ideen, mit ihren Finten und Tricks kontrastierten sie das schablonenhafte Spiel der Europäer. Als die FIFA mit der Organisation der ersten Fußball-Weltmeisterschaft 1930 im fernen Land der Rinderzüchter eine neue Zeitrechnung einläutete, gab Andrade sein letztes Hurra. Er stand im Zentrum des legendären Spiels in Montevideo am 30. Juli 1930 im Estadio Centenario vor 68.346 Zuschauern. Die enthusiastischen Fans kamen von beiden Ufern des gelb-braunen Rio de la Plata, um das Finale der Fußball-WM zwischen Uruguay und Argentinien zu erleben. Schiedsrichter war ein gewisser John (Jean) Langenus aus Belgien.

Selbst der Abwehrspieler Fernando Paternoster (Vater Unser) vom Racing Club Buenos Aires konnte trotz höchstem göttlichen Beistand die 2:4 Niederlage der „Gauchos“ nicht verhindern. Als einziger Schwarzer im Team der Urus war erneut Jose Leandro Andrade die exotische Attraktion des Finales und führte sein Team zum Weltmeistertitel. Aber danach kamen dunkle Jahre für ihn. Die Kraft wich aus seinen Beinen. Kein Tango und kein Fußball mehr. Er versank allmählich in der Arbeitslosigkeit, die Syphilis beschleunigte seinen körperlichen Verfall. Als sein Neffe Victor Rodriguez Andrade mit Uruguay in Rio de Janeiro 1950 erneut Weltmeister wurde, war sein Onkel bereits ein Pflegefall. Jose Leandro Andrade starb 1957 in einem Pflegeheim in Montevideo in bitterer Armut, so wie sein Leben begonnen hatte, bevor er den Tango entdeckte und ihn zelebrierte, auf dem Fußballplatz und auf der Bühne der Varietes von Paris.

Uwe Morawe

Eckig vs. T-förmig

Dass man als Schiedsrichter ab und an bedroht wird, war John Langenus ja gewohnt. Während oder nach einer hitzigen Partie. Aber diese hormongeschwängerte Wut bereits vor dem Anpfiff? Das war für ihn neu.

Seit fünf Minuten dieses 30. Juli 1930 sollte das erste Finale in der Geschichte der Fußballweltmeisterschaft bereits laufen. Von ihm, dem Belgier John Langenus, angepfiffen. Und jetzt stand er immer noch inmitten einer aufbrausenden Horde von Spielern im Kabinengang. Der Referee kam sich fehl am Platze vor in seinen Knickerbockern, dem weißen Hemd mit Krawatte und feinem schwarzem Jackett.

Natürlich war ihm bewusst, dass er darin an einen Storch im Salat erinnerte, aber diese Aufmachung hatte etwas Vornehmes und Abstand Gebietendes. Erstmals in seiner Karriere schien diese Maskerade in ihrer Funktion als schützende Ritterrüstung zu versagen. Unterschiedliche Welten prallten hier im Spielertunnel aufeinander. Langenus war als wallonischer Diplomatensohn nicht zufällig auf den englischen Vornamen „John“ getauft worden, er war vielsprachig aufgewachsen, beherrschte Französisch, Englisch, Deutsch, Italienisch. Bis eben hatte er selbstsicher geglaubt: auch Spanisch.

File:John Langenus The football arbitrator a judging first final of the World championships 1930 year.jpg
John Langenus vor dem Anpfiff des WM-Finales 1930

Doch von diesem zischelnd kehligen südamerikanischen Dialekt aus über zwanzig Kehlen war seine spanische Schulgrammatik so weit entfernt wie er selbst von einer ordnungsgemäßen Durchführung des anstehenden Endspiels. Immerhin, der Kern des ganzen Geschubses und Gedränges wurde deutlicher: es ging um den Spielball. Der argentinische Kapitän Ferreira hielt ihm ständig eine konventionell aus langen Streifen genähte Lederkugel vor die Nase. Diese wurde immer wieder von einem anderen Spielgerät aus dem Gesichtsfeld von Langenus herausgedrückt. Bei näherer Betrachtung – die in all der Unruhe nicht eben leicht fiel – war zu erkennen, dass der Ball, den der Uruguayer Nasazzi fest umherschüttelte, tatsächlich andersartig verarbeitet war. Ihn hielten T-förmige Lederstücke zusammen.

Selbstredend wusste der Referee, dass es keinesfalls um eine Diskussion ging, ob nun das nördliche oder südliche Ufer des Rios de la Plata die höherstehende Sattlereikunst beherberge. Allenfalls spielte eine Spur Aberglaube mit hinein. Im Kern jedoch ging es um ihn selbst, John Langenus. Er sollte auf die eine oder andere Seite gezogen werden. Wenn er jetzt keine vernünftige Lösung fände, hätte der spätere Verlierer den Sündenbock für die Niederlage bereits gefunden: ihn, den Schiedsrichter. Resigniert stellte Langenus fest: nicht einmal eine simple Geschichte wie die Organisation des Spielballs hatte die FIFA hinbekommen.

Dabei waren vor zwei Jahren doch alle noch so begeistert gewesen, als die Idee einer Weltmeisterschaft konkreter wurde. Ermuntert durch den Erfolg der Fußballturniere bei den Olympischen Spielen 1924 und 1928 wollte man den Schritt wagen. Frankreich und Deutschland warfen ihren Hut in den Ring und bewarben sich als erste Ausrichternation. Als der sittenstrenge DFB erfuhr, dass auch Profifußballer an den Start gehen sollten, erkaltete das deutsche Interesse. Und weil die FIFA schon damals einen ähnlich großen Machtanspruch wie heute vertrat, jedoch über keinerlei Budget verfügte, sprang auch Frankreich ab. Der Weltverband hatte beschlossen, dass der Ausrichter selbst sämtliche Ausgaben von Stadionbauten über Reisekosten und Unterbringung aller Teilnehmer zu tragen hatte.

Typisch FIFA, dachte John Langenus. Laden sich selbst mit 500 Gästen bei einem gutgläubigen Kumpel ein, und der soll noch zahlen. Ihm selbst hatten die weltfremden Funktionäre bei seiner Schiedsrichterprüfung für internationale Partien folgende Frage gestellt: „Wie ist das Spiel fortzusetzen, wenn ein hoch geschlagener Ball ein zufällig über das Spielfeld schwebendes Flugzeug trifft?“ Langenus hatte die Antwort auf solchen Blödsinn schlicht verweigert und den Sitzungsraum mit der Empfehlung verlassen, man solle sich doch einfach Spiele unter seiner Leitung anschauen und dann entscheiden. Drei Monate später hatte er überraschenderweise die Lizenz.

Und sie führte den neugierigen jungen Schiedsrichter hinaus in die weite Welt. Das kleine stolze Uruguay hatte entschieden, wir ziehen das durch. Trotz Weltwirtschaftskrise wollte man den Ländern aller Kontingente ein guter Gastgeber sein. Die Goldmedaillen bei den beiden letzten Olympischen Spielen hatten selbstbewusst gemacht. Zudem feierte die demokratische Republik im 3-Millionen-Volk hundertjähriges Bestehen. Also wurde in nur elf Monaten das größte und modernste Stadion Südamerikas aus dem Boden gestampft, das Centenario in Montevideo. Problem nur, die Europäer wollten nicht! Zu weit, zu umständlich, zu ungewiss.

Vier Monate vor Beginn der WM hatte noch nicht ein einziges europäisches Land zugesagt. Erst das Betteln und Klinkenputzen von FIFA-Präsident Jules Rimet stellte sicher, dass mit Frankreich, Jugoslawien und den zweitklassigen Rumänen und Belgiern zumindest vier Nationen vom alten Kontinent die Dampfer bestiegen. Die WM-Premiere startete mit lediglich 13 Mannschaften. In Anbetracht dieser Umstände hatte das Turnier bis zum heutigen Finale ganz ordentlich funktioniert. OK, das Stadion war exakt fünf Tage zu spät fertiggestellt worden. Machte nichts, wurde die Eröffnungsfeier eben nachgeholt, nachdem die ersten Gruppenspiele in kleineren Arenen bereits absolviert waren. Zudem hatte ein ängstlicher Kollege die Partie Argentinien-Frankreich beim Stand von 1:0 genau in dem Moment abgepfiffen, als ein Franzose allein auf den Torhüter zulief – in der 84.Minute! Das alles wurde akribisch festgehalten von John Langenus, der neben seinem Job als Schiedsrichter auch die Spielberichte für die deutsche Zeitschrift Kicker verfasste und durchtelegrafierte.

Wie gesagt, nur kleinere Ungereimtheiten bisher. Die beiden eindeutig stärksten Mannschaften hatten das Endspiel erreicht, Uruguay und Argentinien. Zwei, die sich mal gar nicht mochten und sich bereits im Olympia-Finale von Amsterdam zwei Jahre zuvor auf die Schienbeine geklopft hatten. Endstand damals 2:1 für Uruguay im Wiederholungsspiel. Aber jetzt waren wir nicht im weit entfernten Europa, jetzt fand dieses Spiel vor 90.000 frenetischen Südamerikanern statt. Der Diplomatensohn im Schiedsrichter erwachte im Vorfeld des Finales. Langenus ordnete an, dass die Stadion-Tore bereits acht Stunden vor Spielbeginn geöffnet würden. Bis vier Stunden vor Anpfiff mussten alle Zuschauer – darunter 15.000 Argentinier – anwesend sein. Leibesvisitation war angesagt. Langenus hatte in den Spielen zuvor die uruguayische Sitte bemerkt, Siege noch im Stadion mit Pistolenschüssen zu feiern. Die wären im Falle einer Niederlage in den gegnerischen Block und in den Mann in Schwarz abgefeuert worden. Hinter jedem Tor stand ein Wachbataillon zum Schutze des Unparteiischen, eine Route durch die Stadt war ausgearbeitet worden, um im Notfall eine Fähre bereits 60 Minuten nach Abpfiff besteigen zu können.

Wie erwähnt: der Schiedsrichter selbst hatte all diese Maßnahmen getroffen. Nicht die FIFA. Die hatte ein Tischchen für die Siegerehrung aufgebaut, das war’s. Eine halbe Stunde vor Anpfiff hatte Langenus den Lagebericht der Polizei erhalten. 1600 Revolver waren beschlagnahmt worden. Eintausend-Sechshundert! Was hatte der gute Mann alles unternommen, um dieses Endspiel in halbwegs friedliche Bahnen zu lenken, und jetzt kamen die beiden Mannschaften kurz vor Anpfiff mit ihrem Testosteron und dem Scheiß-Scheiß-Scheiß-Spielball!

Draußen wurde die Unruhe des wartenden Publikums immer lauter. Ein gutes Zeichen, denn das bedeutete im Umkehrschluss, dass der Lärmpegel im Spielertunnel etwas heruntergegangen sein musste. Langenus gelang es, die beiden Kapitäne zur Seite zu nehmen und erklärte ihnen seinen Lösungsvorschlag. Die eine Hälfte mit der argentinischen Pille, die andere mit der uruguayischen. Münze entscheidet mit welchem Ball wann, und dasselbe nochmal im Falle einer Verlängerung. Verstanden, Comprendo?

Der Gordische Knoten war zerschlagen! Mit einer Viertelstunde Verspätung konnte das erste Finale einer WM starten. Argentinien spielte im ersten Durchgang mit seinem geliebten längsförmig genähten Ball und führte zur Pause mit 2:1. Doch Uruguay glaubte an die Macht der T-Form, drehte in der zweiten Hälfte mit dem vertrauten Leder am Fuß die Partie und siegte mit 4:2. War wohl doch etwas dran gewesen.

Schlusspfiff, alles war gut, außer für die Argentinier. Zumindest kamen sie heil nach Hause. Grenzenloser Jubel ohne gewalttätige Ausschreitungen im Centenario, sogar ein Flugzeug drehte seine Runden über dem Stadion. Der Notplan mit der Fähre blieb in der Schublade. John Langenus hängte noch einige Tage in Montevideo dran und schrieb in aller Ruhe seinen Spielbericht für den Kicker. Keine besonderen Vorkommnisse, Fußball als Freudenfest, sollte man unbedingt noch mal machen so eine Weltmeisterschaft, unvergessliche Erfahrung, Schade, dass so wenige Europäer teilgenommen hatten, aber das wird beim nächsten Mal bestimmt anders, denn da muss man einfach dabei gewesen sein.

Urnengrab von Jose Andrade; Montevideo, Cementerio de Buceo, Panteon de los Olimpicos.

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