Eduard „Edik“ Strelzow

Das Comeback des Geächteten

Biografie
Geboren am: 21.7.1937 in Moskau
Gestorben am: 21.7.1990 in Moskau
Grabstätte: Moskau
Friedhof Vagankovskoye
Ulica Sergeja Makeeva
Sektor 13; vom Haupteingang aus
links vor dem Krematorium
Stationen der Karriere als Fußballer
Position: Mittelstürmer
Vereine: Torpedo Moskau (1954-1958)
Torpedo Moskau (1963-1970)
39 Länderspiele (1955-1968); 24 Tore
Olympiasieger 1956
Sowjetischer Meister 1965
Sowjetischer Pokalsieger 1968

Am 25. Juli 1958 verurteilte ein Moskauer Gericht Eduard Strelzow, den „Verdienten Meister des Sports“ und Mittelstürmer der sowjetischen Nationalmannschaft, zu zwölf Jahren Straflager in Sibirien. Kurz vorher war die WM in Schweden zu Ende gegangen, und die Experten waren verwundert, dass dieses fußballerische Aushängeschild der UdSSR – neben Lew Jaschin und Igor Netto – nicht im Kader war, zumal man der Sowjetunion gute WM-Chancen eingeräumt hatte. Spekulationen gab es viele. Krankheit? Verletzung? Der tatsächliche Grund für sein Fernbleiben blieb lange geheim. Erst Jahre später wurde bekannt, was geschehen war.

Der „Spiegel“ schrieb bereits ahnungsvoll am 19. Februar 1958, also kurz vor der WM: „Wegen Trunksucht, Arroganz und unsportlichem Verhalten wurde der renommierte Mittelstürmer der sowjetischen Fußballnationalmannschaft, Eduard Strelzow (20), aus der Nationalmannschaft ausgeschlossen.“ Das Nachrichtenmagazin zitierte einen russischen Journalisten, der in der „Komsomolskaja Prawda“ angeprangert hatte, dass ein Spieler wie Strelzow zum „Star“ gemacht werde, und kritisierte, dass die Hollywood-Terminologie in den russischen Sprachgebrauch Einzug halte.

Der Starkult, der sich um den jungen, blonden, gut aussehenden Spieler von Torpedo Moskau entwickelt hatte, passte nicht zur kommunistischen Ideologie, derzufolge der Kollektivgedanke die Grundlage des Systemerfolges sei. Als Warnung für alle Abweichler wurde an Strelzow ein Exempel statuiert. Es blieb nicht beim Ausschluss aus der Nationalmannschaft, sondern er kam vor Gericht.

Ein junges Mädchen, Tochter eines KGB-Generals, bezichtigte Strelzow, sie nach einem geselligen Abend auf einer Berghütte, bei dem viel Wein und Wodka geflossen sei, vergewaltigt zu haben. Der Urteilsspruch lautete auf schuldig und kam fast einem Todesurteil gleich, wenn man bedenkt, welche Zustände im Archipel Gulag herrschten. Zumindest bedeutete er das Ende dieser hoffnungsvollen Karriere. Es ging nach Sibirien, nicht nach Schweden.

Grabstätte von Eduard Strelzow:
Moskau, Friedhof Vagankovskoye
Ulica Sergeja Makeewa, Sektor 13.
Vom Haupteingang aus links vor
dem Krematorium.

Einen ähnlich spektakulären und drastischen Eingriff der Staatsgewalt in den sich entwickelnden Spitzenfußball der Sowjetunion hatte es schon 1943 gegeben. Lawrenti Berija, Stalins allmächtiger Geheimdienstchef, engagierte sich stark als Förderer des Clubs Dynamo Moskau, hinter dem das Innenministerium und der KGB standen. Der schärfste Rivale war Spartak Moskau, das von der Textil- und Lebensmittelindustrie unterstützt wurde. Dessen Vereinsführung lag bei Nikolai Starostin, einem früheren Fußball- und Eishockeynationalspieler, dessen Brüder Andrej, Aleksandr und Pjotr erfolgreich in der Mannschaft von Spartak spielten.

Um diesen Verein zu schwächen und Dynamo Moskau die führende Position im sowjetischen Vereinsfußball zu sichern, ließ Berija die vier Starostins wegen des Vorwurfs anklagen, mit ihren Vereinsaktivitäten das Primat der Organisation des Sports in den Partei- und Gewerkschaftsorganisationen zu unterlaufen. Wegen „Förderung des bourgeoisen Sports und der bourgeoisen Moral“ wurden alle Gebrüder Starostin schuldig gesprochen und zu je zehn Jahren Arbeitslager im fernen Sibirien verurteilt. Ihre Namen verschwanden aus der öffentlichen Nomenklatura. Spartak war damit ausgeschaltet. Mit viel Glück überlebten die vier die nächsten Jahre in Sibirien, vor allem dank fußballbegeisterter Lagerkommandanten, wie Nikolai Starostin später erzählte.

Es ging nach Sibirien, nicht nach Schweden.

Als der Zweite Weltkrieg 1945 endete, etablierte sich mit ZSKA Moskau, der Mannschaft der siegreichen „Roten Armee“, ein neuer Rivale für Berijas Dynamo-Club. Zudem hatte ZSKA einen sehr prominenten Förderer: Wassili Stalin, Luftwaffengeneral und Sohn des Diktators. Der versuchte, Nikolai Starostin aus dem Gulag zu holen und mit ihm sein Team zu verstärken. Es gelang ihm zwar, den prominenten Häftling mit Hilfe der Luftwaffe aus dem fernen Sibirien nach Moskau bringen zu lassen, aber Berija ließ ihn erneut verhaften. Josef Stalin lachte nur darüber. Er liebte solche Ränkespiele in seiner Umgebung. 1954, nach Stalins Tod und Berijas Hinrichtung, wurden alle vier Starostins rehabilitiert und konnten nach Moskau zurückkehren, wo vor allem Nikolai als späterer Nationaltrainer und Präsident von Spartak Moskau eine bedeutende Rolle im sowjetischen Spitzenfußball einnahm. Er verstarb am 17. Februar 1996 mit fast 94 Jahren in Moskau.

Grabstätte von Nikolai Starostin:
Friedhof Vagankovskoye, Moskau.

Das noch spektakulärere „Comeback eines Geächteten“ gelang Eduard Strelzow. Die Staatsgewalt hatte ihn 1963 nach fünf Jahren in Sibirien begnadigt. Er kam gedemütigt zurück, aber körperlich war er nicht zerbrochen. Mittlerweile 26 Jahre alt, spielte er bereits wenige Wochen nach seiner Heimkehr wieder für Torpedo, das dem verlorenen Sohn und ehemaligen Publikumsliebling eine erneute Chance gab, auf Torejagd zu gehen. Doch vieles hatte sich fußballerisch verändert. Das alte WM-System war infolge der Weltmeisterschaft in Schweden durch das von den Brasilianern zelebrierte 4-2-4 oder spätere 4-3-3 abgelöst worden. Aber Strelzow schaffte es nach seiner langen Absenz erstaunlich schnell, die körperliche Herausforderung zu meistern und sich mental auf die neuen Spielsysteme einzustellen. Trotz seiner neuen Rolle als Spielmacher war ihm sein Torinstinkt erhalten geblieben, und so führte er zwei Jahre nach seinem Comeback 1965 Torpedo zum Landesmeistertitel.

1957 hatte die Journalisten ihren „Edik“ erstmals zum Fußballer des Jahres der Sowjetunion gewählt. Zehn Jahre später, 1967, schmückten sie ihn zum zweiten Mal mit dieser Auszeichnung. Auch die Nationalmannschaft profitierte von der zweiten Karriere dieses Ausnahmekönners, der sie durch die Qualifikation zur Teilnahme an der Fußball-WM 1970 in Mexiko führte. Eine Verletzung verhinderte seine eigene Teilnahme, danach trat er endgültig ab. Er blieb Torpedo in der Jugendarbeit verbunden, aber die Hafterlebnisse und der Alkohol forderten bald ihren Tribut. Strelzow starb früh, an seinem 53. Geburtstag. Der Grabstein symbolisiert das von äußeren Zwängen bestimmte Leben eines genialen Fußballers mit menschlichen Schwächen, der zwischen die Mühlsteine eines menschenverachtenden Systems geriet.

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