Andreas Brehme

Er sprach mit den Füßen“

Foto: Wikimedia Commons
Biografie:
Geboren am 9.11.1960 in Hamburg
Gestorben am 20.2.2024 in München
Grabstätte: München
Ostfriedhof; St. Martins-Platz 1
Feld 58 7 -5
100 m links vom Haupteingang

Stationen der Karriere als Fußballer
Position: Verteidiger
Vereine: HSV-Barmbek-Uhlenhorst (1965-1980)
1.FC Saarbrücken (1980-1981)
1. FC Kaiserslautern (1981-1986)
FC Bayern München (1986-1988)
Inter Mailand (1988-1992)
Real Saragossa (1992-1993)
1.FC Kaiserslautern (1993-1998)
86 Länderspiele (1984-1994); 8 Tore
Weltmeister 1990
Fußballer des Jahres Italien 1989
Deutscher Meister 1987 und 1998
Italienischer Meister 1991
UEFA-Cup Sieger 1991
Deutscher Pokalsieger 1996
WM-Teilnehmer 1986/1990/1994
Stationen der Karriere als Trainer
1. FC Kaiserslautern (2000-2002)
Spvgg Unterhaching (2004-2005)

Tatort: Das Olympiastadion von Rom am 8. Juli 1990 gegen 23.00 Uhr. WM-Finale. Deutschland gegen Argentinien. Der Exekutor Andy Brehme aus Barmbek Uhlenhorst trat nach dem Elfmeterpfiff des mexikanischen Schiedsrichters Edgardo Enrique Codesal Mendez zur Vollstreckung an. Die 85. Minute war angebrochen. 1982 (gegen Italien) und 1986 (gegen Argentinien) hatte Deutschland die WM-Endspiele verloren. Alle deutschen Fans dachten angesichts des Spielverlaufs gegen obstruktive Argentinier. Nicht schon wieder! Bloß kein Elfmeterschießen.

Brehmes Augen fixierten den Ball, während alle Argentinier empört den Schiedsrichter bedrängten, die Entscheidung zurückzunehmen. Das Foul an Augenthaler einige Minuten vorher war elfmeterreif, dass an Rudi Völler weniger, auch wenn dieser schwer verwundet zu Boden stürzte. Zwischen Elfmeterpfiff und Ausführung vergingen gefühlte zehn Minuten. Dann kam der Pfiff von Schiedsrichter Mendes. Andy Brehme sprach und handelte mit den Füßen. Einmal noch kniff der Vollstrecker die Augen zusammen, als wolle er ganz klarsehen. Dann fiel das Fallbeil des Henkers aus Barmbek Uhlenhorst. Es folgten sechs entschlossene Schritte, Schuss mit rechts und der Ball war drin. Was folgte? 28,7 Millionen west -und ostdeutsche Fernsehzuschauer stießen vereint einen solchen Jubelschrei aus, dass ihn selbst die Astronauten im Space -Shuttle im Weltall hören konnten. Mit einem rekordfähigen Luftsprung raste der Schütze auf seine Mitspieler zu, die sich über ihn warfen und ein scheinbar unentwirrbares Knäuel bundesdeutscher Nationalspieler bildeten. Andy überlebte unversehrt und konnte wenige Minuten später den WM-Pokal in den Nachthimmel von Rom recken. In diesem Sommer 1990 zeigte sich ein kleiner, heller Spalt in der deutschen Geschichte, nicht viel breiter als der Korridor, durch den Andreas Brehme seinen perfekten Elfmeter schickte“ (Christof Kneer). Die Zeiten sollten bald wieder anders werden. Grundannahme und Hoffnung, dass dank eines Elfmeters und Sporttriumphes mit grenzüberschreitender deutscher Begeisterung die Wiedervereinigung eines vorher zerschnittenen Gemeinwesens zu einem harmonischen Ganzen stattfand, trog, bis heute noch.

Die Gnade des Henkers liegt im sicheren Hieb. Vater Bernd Brehme schilderte die aufregenden Minuten vor der Exekution „Als Andreas sich den Ball nahm und auf den Elfmeterpunkt legte, saß ich mit meiner Frau auf der Tribüne des Olympiastadions von Rom. Sie drehte sich um, denn sie ertrug die Aufregung nicht. Ich aber musste mir das angucken, weil ich wusste: Den macht er rein.  So wie immer. So wie damals, als wir auf dem Sportplatz in Barmbek trainierten, bis es dunkel wurde. Andreas war immer besser als andere, er war immer ein Stück weiter. Als Vierjähriger kickte er bei Sechsjährigen mit. Als Sechsjähriger bei den Neunjährigen. Mit 17 machte er sein erstes Oberligaspiel, mit 18 spielte er in der Regionalliga. Er hatte eine immense Kraft in den Beinen. Wir trainierten seine Beidfüssigkeit, präzise Schüsse und direkte Pässe ohne Annahme. Manche Leute behaupten, dass ich Andreas früher mit Bleimanschetten über den Sportplatz gescheucht habe. Das stimmt nicht. Nun, zumindest das mit dem Scheuchen ist nicht richtig. Für ihn war die Bundesliga immer ein Traum, aber der HSV wollte ihn nicht. Zu klein sei er, sagten Manager Günter Netzer und Trainer Branko Zebec nach einem Probetraining und wollten ihn zur Zweiten Mannschaft in die Landesliga schicken. Dabei spielte er bei Barmbek-Uhlenhorst schon in der Regionalliga. Immerhin: Felix Magath (der damals beim HSV spielte A.d.V.) fand ihn beim Probetraining ganz gut und vermittelte ihm einen Vertrag bei seinem alten Verein, dem 1.FC. Saarbrücken“.

Von dort wechselte Andreas 1981 nach Kaiserslautern, dann 1986 zum FC Bayern und 1988 zu Inter Mailand. Und nun, am 8. Juli 1990, legte er sich den Ball am Elfmeterpunkt zurecht. Im Tor der Argentinier stand Sergio Goycoechea (Originalton TV-Reporter Gerd Rubenbauer: „Dieser Teufel im argentinischen Tor) und bewachte furchteinflößend sein Gehäuse. Die Zugbrücke der Argentinier war schon längst hochgezogen. Goycoechea hatte die nur noch mittelmäßige Mannschaft vom Rio de la Plata durch seine Paraden im Elfmeterschießen gegen Jugoslawien (Viertelfinale) und im legendären Halbfinale gegen Italien in Neapel ins Finale gebracht. Die „Gauchos“ versuchten im Endspiel, ab der 65. Minute nunmehr auch noch in Unterzahl, weil Pedro Daniel Monzon unseren Jürgen Klinsmann dermaßen abgegrätscht hatte, dass der in seiner bewährten Art abhob und der Gaucho vom Platz flog.Jetzt ging es für die Argeninier nur noch darum, das Elfmeterschießen zu erreichen. Da sahen sie ihre Siegchance dank ihres Torhüters vom Club Deportivo los Millonarios aus Bogota, der Hauptstadt von Kolumbien.

Goycoechea, wohl Nachfahre baskischer Einwanderer in Argentinien, wusste um die Stärken von Andy als Meister des Präzisionsschusses, links wie rechts. Er hatte nur eine Chance, den Elfer zu halten, wenn er genau in die untere Ecke tauchen würde, die Brehme sich aussuchte. Er erwartete keinen halbhohen Schuss oder einen in den Winkel. Die Chancen standen 50 zu 50. Der Autor stand mit Rolf Rüssmann hinter dem argentinischen Tor. Es war still, man hörte die Grashalme brechen. Eine leise, aber logische Frage an den 20fachen Nationalspieler: „Rolf, macht er den rein? Rolf: „Ich bin sicher. Andy hat links wie rechts eine Perfektion, die ich von keinem anderen Weltklassespieler kenne“. Und Goychoechea tauchte instinktiv in das richtige Eck. Es ging um Zentimeter. Kein Blatt passte zwischen Ball und Torpfosten. Sonst hätte Goychoechea ihn gehalten.

Andy Brehme war ein fußballerisches Unikat. Beidfüßig. Das hatte der Herrgott im Rahmen der Schöpfungsgeschichte des Fußballs so nicht vorgesehen. Viele Weltklasse-Spieler wie die Linksfüßler Ferenc Puskas, Diego Maradona oder Lionel Messi brauchten oder brauchen das andere Bein nur zum Stehen.

Brehme machte die Außenposition bei den Bayern, bei Inter Mailand und der DFB-Elf zum Mittelpunkt und käme es mal wieder zur sinnlos wunderbaren Disziplin einer subjektiven Auswahl der besten deutschen Mannschaft aller Zeiten, wären Andy Brehme und Philip Lahm die ersten Kandidaten in dieser Position, egal wer links oder rechts spielt. Beide könnten sich ja abwechseln. (Christov Kneer)

Brehmes Vater gelang es, mit seinem Sprössling das Naturgesetz unterschiedlicher Fähigkeiten von linken oder rechten Händen und Füßen außer Kraft zu setzen. „Brehme hatte einen herausragenden linken und einen herausragenden rechten Fuß, und soweit man weiß, war kein Fuß neidisch auf den anderen. Obwohl man den linken nie gefragt hat, wie es ihm damit ging, dass der rechte diesen Elfmeter im WM-Finale geschossen hat.“ (Christof Kneer).

Den linken Fuß nahm Brehme meistens für Freistöße, weil der Schuss schärfer war, den rechten, wenn er präzise schießen wollte wie beim Elfmeter in Rom. Die gegnerischen Torhüter Joel Bats im Halbfinale 1986 gegen Frankreich, Hans van Breukelen im Viertelfinale 1990 gegen die Niederlande oder Peter Shilton im Halbfinale 1990 gegen England (Freistoßtor in der 51. Minute mit links, Elfmeter mit rechts) können ein Lied davon zu singen.

Brehmes Tor zum 1:0 Sieg in Rom war, wie das Brandenburger Tor, auch das Tor zur Deutschen Einheit 1990. Acht Tage vor dem Endspiel wurde in den ostdeutschen Bundesländern die D-Mark eingeführt. Die fast geeinte deutsche Nation war im warmen Juli des Jahres 1990 im Sieges- und Freudentaumel angesichts des möglichen dritten Weltmeistertitels. Alles war rosig in diesem unendlichen „Estate italiana“, dem italienischen Sommer, wunderbar eingefangen als WM-Hymne, gesungen von Gianna Nannini. Die mitgereisten Fans entwickelten eine Liebe zu Italien wie die Deutschen seit Goethes Reisebeschreibungen (1786 -1788) nicht mehr.

Die Italienreise der deutschen Nationalmannschaft begann nach der erfolgreichen Vorrunde gegen Jugoslawien (4:1), die Vereinigten Arabischen Emiraten (5:1) und Kolumbien (1:1). Der 24. Juni 1990 war die Ouvertüre auf der Via Appia zum Titelgewinn in Rom. Es kam zu dem unerwarteten Spiel gegen die Niederlande, weil die „Holländer“ sich noch so gerade als Gruppendritter für das Achtelfinale qualifiziert hatten. Das war im Sinne der FIFA etwas verfrüht angesichts der Weltklasse dieser beiden Mannschaften und planerisch eher eine Paarung im Halbfinale oder Finale. Und dann noch im Guiseppe Meazza Stadion! De facto Inter Mailand, dem“ Inter dei Tedesci“ mit Matthäus, Brehme und Klinsmann gegen den AC Mailand (mit der Holländer-Fraktion Rijkaard, Gullit und van Basten). In der lombardischen Hauptstadt brodelte es den ganzen Tag. Das emotional schon vereinigte Deutschland gegen Oranje. Es herrschte Alkoholverbot in den Städten, in denen Spiele stattfanden. Das förderte die Kreativität von Fußballfans bei der Beschaffung eines guten Schluckes gekühlten Bieres oder eines Weißweins aus der Lombardei oder aus Venetien. Auf der Rückreise nach dem Spiel Richtung Deutschland wurde der Halt am ersten Autogrill sehnsüchtig erwartet. Denn dort gab es wieder alkoholhaltige Getränke. Und dann kamen die „Toten Hosen“ und sangen unplugged mit der Fangemeinde: „Eisgekühlter Bommerlunder, Bommerlunder eisgekühlt“. Un‘ Estate italiana. Unvergesslich.

Der Fußballgott kann, wenn er will, Choreografien schaffen, die einen Fan während des Spiels altern lassen oder wie ein Gesundbrunnen wirken. Das Stadion San Siro, gewidmet dem Stadtheiligen Guiseppe Meazza,war prall gefüllt mit 74.559 angespannten und erwartungsvollen Zuschauern. Es war ein Farbenmeer aus Oranje und schwarz-rot-gold bei schwüler Temperatur, die die Atmosphäre zusätzlich auflud. Das Spiel wogte bis zur 21. Minute hin und her. Es war giftig. Als Zuschauer spürte man die gegenseitige Ablehnung trotz allen Respektes vor der fußballerischen Qualität des Gegners. Dann kam die 21. Minute. Rudi Völler stürzte bei einem Angriff über Hollands Torwart Hans van Breukelen, der von Testosteron gesteuert aggressiv auf Völler zulief. Es kam zur Rudelbildung. ARD-Reporter Heribert Faßbender echauffierte sich stellvertretend für Stammtisch-Deutschland. „Er gibt ihm Rot. Ich fürchte, er hat dem Rudi Völler Rot gezeigt. Ein Skandal.“ Seine Empfehlung für den Fortlauf des Spiels: „Schickt den Mann in die Pampa“. Schiedsrichter Juan Carlos Loustau war Argentinier. Ergebnis: Frank Rijkaard und Rudi Völler wurden vom Platz gestellt. Rijkaard nutzte den Abgang zu einer etwas unangenehm wirkenden Spuckattacke ins Gesicht des mit „Vokuhila“ nach Italien gereisten „Ruuuudi“. Die Platzverweise hatten Auswirkungen auf das Spiel der beiden Mannschaften. Oranje fehlte plötzlich das Scharnier im Mittelfeld und Jürgen Klinsmann machte das Spiel seines Lebens und lief für Rudi Völler mit. Er belohnte sich und das deutsche Team mit dem 1:0 in der 51. Minute. Und dann kam die 85. Minute. Andy Brehme schlenzte mit rechts den Ball an dem immer noch vom Testosteron gesteuerten Hans van Breukelen vorbei zum 2:0. Das war die Vorentscheidung. Und der Beginn des wahren Sommermärchens. Nun führten alle Wege nach Rom, über die Siege gegen die Tschechoslowakei im Viertelfinale und England im Halbfinale.

Die Fußballhistorie kennt viele Momente, in denen sich epische Szenen in das Gedächtnis deutscher Fußballfans unterschiedlicher Generationen eingemeißelt haben, vor allem die Siegtore, die zum Gewinn des Weltmeistertitels geführt haben.

Helmut Rahns Siegtor 1954 zum 3:2 gegen Ungarn; Gerd Müllers Siegtor 1974 zum 2:1 gegen die Niederlande; Mario Götzes Siegtor 2014 zum 1:0 gegen Argentinien. Das Tor von Andy Brehme zum WM-Titel 1990 wirkte noch intensiver, weil ihm zehn Minuten erwartungsvolle Hingabe der deutschen Fans im Stadion oder an den Bildschirmen vorausgingen. Das Tor kam nicht aus heiterem Himmel, sondern baute sich wie das Finale in Maurice Ravels „Bolero“ mit seinem Zenit auf. Euphorie bei den Deutschen, Trauer und Verzweiflung bei den Argentiniern. Diego Maradona weinte hemmungslos.

1993 kehrte Brehme nach Deutschland zurück, zu seinem früheren Verein, dem 1.FC Kaiserslautern. Die fünf Jahre in der Pfalz bescherten ihm noch einmal Tränen des Verlierers und des Siegers.1996 weinte er sich an der Brust seines Freundes Rudi Völler von Bayer Leverkusen aus (Abstieg), um 1998 die sensationelle deutsche Meisterschaft mit dem Aufsteiger aus der Pfalz zu feiern.

Seine anschließende Trainerkarriere beim 1. FC Kaiserslautern und der Spvgg Unterhaching war kurz. Die schönste Zeit hatte er wohl beim VfB Stuttgart, als ihn Giovanni Trapattoni, sein geliebter Trainer bei Inter Mailand von 1988-1991, als Co-Trainer verpflichtete. Diese Rolle lag Andy Brehme mehr als die des Impresarios, der im Rampenlicht steht. Seine Kommentare zu Spielergebnissen waren nicht romantisch, sondern Klartext. Kunstvoll brachte er versandende Sätze noch zu Ende.

„Haste Scheiße am Fuß, haste Scheiße am Fuß“

„Ich sach mal, sach ich mal“

„Von der Einstellung her stimmte die Einstellung“

Schopenhauer und Adorno hätten ihre Freude an der Interpretation dieser Aussagen gehabt, meistens nach einem verlorenen Spiel.

In Italien fühlte sich „il Biondo“, wie man ihn in Anlehnung an den großen Helmut Haller nannte, wohl. Aber auch in München, dieser nördlichsten Stadt Italiens. In den letzten Jahren liebte er sein „Café Roma“ in der Böhmler-Passage im Tal neben Schneiders Weißem Bräuhaus und die „Bar Elf“ mit ihrer Atmosphäre Norditaliens. Wenn er die Lokalitäten betrat, wehte ein Hauch Lombardei durch sie, und die italienischen Kellner bekamen glänzende Augen, wenn sie „il Biondo“ ein Glas Aperol Sprizz servieren konnten und ihn sogleich in ein Gespräch über die Besonderheiten des italienischen Fußballs verwickelten, ungeachtet, ob sie Anhänger von Juventus Turin, dem AC Mailand oder Inter Mailand waren.

Die meist tristen Monate Januar und Februar in München -außer es herrscht Föhn-waren im Jahr 2024 für die Fußballfans in Deutschland von besonderer Düsternis. Das gilt insbesondere für die Fußballfans in Deutschland, deren Biografie mit den Erfolgen der Fußballgrößen Franz Beckenbauer und Andy Brehme verwoben ist. Binnen sechs Wochen verstarben die beiden. Der eine als Lichtgestalt, der andere still und leise.

„Wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben“. Titus Maccius Plautus (um 250-184 v.Ch.)

Grabstätte von Andy Brehme: München, Ostfriedhof; St. Martins-Platz 1
Feld 58 7 -5
100 m links vom Haupteingang

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