Helmut „Hemad“ Haller
„Il Ragazzo d’Oro, der Goldjunge„
Haller! Haller! Hallerluja. So schallten die Rufe durch das ehrwürdige Rosenau-Stadion in Augsburg, als der erste ausländische Fußballer, der in Italien zum Fußballer des Jahres gewählt wurde (1964) noch mal seine Schuhe schnürte, um für den FC Augsburg 1973 im zarten Alter von 34 Jahren aufzulaufen und um ein Haar sein Team in die 1. Bundesliga geführt hätte. Am Ende fehlte ein Punkt.
Seine Strahlkraft ist nachvollziehbar, wenn man die Geschehnisse rund um das Regionalligaspiel zwischen 1860 München und Augsburg am 15. August 1973 im noch recht neuen Münchner Olympiastadion nachvollzieht. Es war Maria Himmelfahrt, ein bayerischer Feiertag. Rund 35.000 Augsburger pilgerten nach München, nicht um der Muttergottes auf dem Marienplatz ein Halleluja zu widmen, sondern um „Hemad“ zu sehen, der von Juventus Turin kommend sein „Austragsstüberl“ beim FC Augsburg bezogen hatte. Das Spiel sprengte alle Dimensionen und bescherte dem Olympiastadion einen bis heute bestehenden Besucherrekord. Mit 79.000 verkauften Tickets war das Stadion ausverkauft. Aber nach Spielbeginn brachen alle Dämme. Die Zuschauer ohne Ticket verschafften sich Zugang ins Stadion. Man schätzt, dass rund 90.000 Zuschauer auf den Rängen standen. Die 136 Verletzten fallen prozentual da nicht so sehr ins Gewicht.
Mit Augsburg verbindet der Normalsterbliche im deutschsprachigen Raum vier Legenden und eine Institution, die über die Stadtgrenzen hinaus bekannt sind. Jakob Fugger, Bertolt Brecht , Roy Black, Helmut Haller und die Augsburger Puppenkiste. Dahinter muss sich Bernd Schuster, ebenfalls Augsburger, leider einreihen. Nicht zu vergessen Kalle Riedle und mit Uli Biesinger ein Weltmeister von Bern 1954, der aber kein Spiel in der Schweiz bestritt.
Helmut Haller hatte neun Geschwister. Er wuchs mit ihnen im Augsburger Stadtteil Oberhausen auf. Allerdings waren sechs seiner Geschwister weiblich. Das machte es in den 50er Jahren nicht einfach für ihn, adäquate Trainingspartner in der Familie zu finden. Das überwiegend weibliche Umfeld zuhause scheint aber nicht hinderlich gewesen zu sein auf Helmuts Weg zu einem der besten Fußballer Europas der 60er Jahre. Ziel der Trefferversuche des jungen Fußballers waren Kellerfenster, Garagentore und manchmal Schaufenster. Helmut fand trotz der weiblichen Übermacht zu Hause, die Mutter nicht zu vergessen, genug Spielkameraden beim BC Augsburg, der später mit Schwaben Augsburg zum heutigen Bundesligisten FC Augsburg fusionierte.
Zu Beginn der 60er Jahre saßen häufig gut gekleidete Männer mit südländischem Aussehen und einem Aktenkoffer auf den Tribünen und schauten den Spielern der vier deutschen Oberligen zu, der damals höchsten deutschen Spielklasse. Objekt der Begierde: Spieler wie Uwe Seeler, Horst Szymaniak, Albert Brülls oder Helmut Haller. „Uns Uwe“ lehnte alle Angebote ab. Helmut Haller nicht. Eines Tages saß Renato dall’Ara im Rosenau-Stadion. Er war Präsident des FC Bologna. Der Aktenkoffer war gefüllt mit 300.000 D-Mark. Für einen solchen Spieler müsste er heute um die 30 Millionen zahlen. Euro, keine Lire. Dafür wäre der Aktenkoffer zu klein. Die „Guardia di Finanza“ und die Grenzbeamten am Brenner waren nicht informiert und schienen auch nicht interessiert, eine Aktenkoffer-Kontrolle zu machen Es ging ja um Italiens Fußball-Ruhm. Dem ordnet der Grenzbeamte, wenn er ein wahrer Tifosi ist, alles unter. Am 6. August 1962, nach der WM in Chile, unterschrieb Helmut Haller den Vertrag mit dem renommierten Verein aus der Emilia Romagna und ging auf eine große, bemerkenswerte Reise an die Spitze des italienischen Fußballs. Haller wurde einer der bestbezahlten Profis in Europa, spätestens nach dem Gewinn der Meisterschaft und dem Wechsel zu Juventus Turin. Er zog das „dolce Vita“ in Italien dem Profidasein in Deutschland vor. „Ich habe die ganzen Jahre meines Fußballerlebens mit Übergewicht gespielt. Das wäre in Deutschland undenkbar gewesen“. Als Jugendspieler war er noch ausgesprochen dünn, und so kam er in der schwäbischen Heimat zu seinem Spitznamen „Hemad“ (Hemd).
Haller führte den FC Bologna oder die „Rossoblu“, wie der Club auch bezeichnet wird, bereits in seiner zweiten Saison zur italienischen Meisterschaft. Und das bei der gewaltigen Konkurrenz von Juventus Turin, Inter und AC Mailand, und AS Rom nicht zu vergessen. Am Ende der Saison 1963/64 lagen der FC Bologna und Inter Mailand punktgleich an der Tabellen-Spitze. Es fand ein Entscheidungsspiel in Rom statt, das der FC Bologna mit 2:0 gewann. Seit dem hat die Mannschaft aus der Hauptstadt der Emilia Romagna keine italienische Meisterschaft mehr gewonnen. Die Fans der „Rossoblu“ trugen „Il Biondino“ noch lange Jahre, auch nach seinem Wechsel zu Juventus Turin, auf den Händen, wenn er sich in der Altstadt von Bologna sehen ließ.
Eine der größten Leistungen Helmut Hallers abseits seiner genialen Fähigkeiten als Fußballer war der Diebstahl des Spielballs nach dem verlorenen WM-Finale 1966 gegen England (2:4 n.V.). Haller schmuggelte das Spielgerät bei der Medaillenübergabe für die Vize-Weltmeister an der Queen vorbei. (Foto). Und Millionen von Engländern blieb es in ihrem Siegestaumel auch verborgen, wie der Ball aus Wembley verschwand und für 30 Jahre unauffindbar blieb. Erst 1996, wenige Wochen vor Beginn der Europameisterschaft auf der Insel, erinnerte man sich dort an die kolossale Lücke. Der WM-Ball war weg. Nicht Scotland Yard, sondern englische Sportjournalisten von der Sun und dem Daily Mirror machten den Dieb ausfindig. Sie hatten in ihren Archiven gestöbert und ein Foto entdeckt, das die Queen, Haller und den Spielball zeigte. Der Ball machte nach dem Endspiel einige Umzüge. Über Bologna, wo Haller damals spielte bis nach Augsburg, wo er in einem Keller landete und in Vergessenheit geriet. Sun und Mirror nahmen Kontakt zu Haller auf und bedrängten ihn, die Kugel herauszurücken. Argument: Der Ball gehöre England, er sei ein Dieb, vergleichbar in seiner Unverfrorenheit und Kaltblütigkeit mit den legendären englischen Posträubern von 1963. Haller zeigte sich unbeeindruckt vom moralischen Druck und beobachtete mit pekuniärem Interesse, wie ein Wettbieten um das Spielgerät begann. Der englische Milliardär Richard Branson machte schließlich das Rennen und erwarb den Ball für eine unbekannte Summe. Der Ballbesitzer setzte sich rechtzeitig vor Beginn der Europameisterschaft ins Flugzeug, finanziert von Richard Branson und überreichte Geoffrey Hurst, dem dreifachen Finaltorschützen von 1966, unter großer Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit das Objekt des größten Triumphes der „Three Lions“. Währenddessen ertönte der Song „Football’s coming Home“ der Band „The Lightning Seeds“, eine der schönsten Fußball-Hymnen Europas. „It’s coming home, it’s coming home, it’s coming Football’s coming home“. Wobei es bei dem Song gar nicht um den Spielball ging , sondern darum, dass England nach „thirty years of hurt“ wieder die Gelegenheit bekommt, einen internationalen Titel zu gewinnen. Aber da spielten die Deutschen nicht mit, sondern warfen England im Halbfinale nach Elfmeterschießen aus dem Turnier. Gary Southgate wird sich sicherlich noch erinnern. Der zurückgekehrte Ball war nicht der erwünschte Glücksbringer. Heute ist er als nationales Kulturgut im National Football Museum in Manchester ausgestellt. Weil England nach 1966 kein einziges internationales Endspiel mehr erreichte, sei es bei einer WM oder EM, hat sich kein weiterer Ball mehr dazu gesellt. Und die „Lightning Seeds“ müssen bald mal wieder ins Studio:“ sixty years of hurt“.
Zurück zu 1966. Scotland Yard geht ein sehr guter kriminalpolizeilicher Ruf voraus. Aber 1966 versagte die Behörde, die damals schon James Bond, Agent 007, in ihren Diensten hatte, völlig. James Bond war gerade unabkömmlich, weil er mit den Dreharbeiten zu „Man lebt nur zweimal“ beschäftigt war. Nicht nur, dass der WM-Ball im Juli unbemerkt vom Zoll das Land verließ. Eine schlimmere Rufschädigung löste ein Vorfall im März 1966 aus. Der WM-Pokal, der „Coupe Jules Rimet“, befand sich bereits vor Turnierbeginn in England. Im März wurde die Trophäe in einer Glasvitrine in der Westminster Central Hall, einer Methodistenkirche in London, ausgestellt. Plötzlich war das Objekt der Begierde jeder Fußballnation verschwunden. Die abgestellten Wächter hatten nicht ihren besten Tag. Die Diebe, angeführt von Sidney Cugullere, einem notorischen Londoner Gauner, beabsichtigten, diesen vier Kilogramm schweren Goldpokal zunächst zu stehlen und dann einzuschmelzen. Nach dem recht einfachen Diebstahl versteckten sie den „Coupe“ in einem Vorgarten des Londoner Stadtbezirks Norwood. Ganz England war in heller Aufregung und die FIFA gab schon den Auftrag, einen neuen Pokal zu schmieden. Alle polizeilichen Bemühungen, das Ding zu finden, fruchteten nicht. Der Pokal blieb verschwunden. Da kam die Stunde von „Pickles“, einem schwarz-weißen Mischlingshund. Bei einem Gassi-Gang am Abend des 27. März führte sein Besitzer, David Corbett, noch ein Gespräch in einer Telefonzelle. Pickles nutzte die Zeit, um unter einer Hecke zu buddeln. Zum Vorschein kam plötzlich etwas Goldenes und Corbett hielt es für eine Bombe. Dann sah er aber, dass alle bisherigen Weltmeister-Mannschaften auf dem Fundstück eingraviert waren. Da fiel es ihm wie Schuppen aus den Haaren. „Das ist der WM-Pokal, den ganz England fieberhaft sucht“.
Er meldete den Fund bei Scotland Yard. James Bond musste seine Dreharbeiten nicht unterbrechen. Aber nicht David Corbett, sondern „Pickles“ war für die nächsten Monate der Superstar in England. Beide, Hundebesitzer und Hund, wurden von der FIFA und dem Englischen Fußballverband zum Finale gegen Deutschland eingeladen und erlebten auf der Ehrentribüne von Wembley den Triumph der „Three Lions“. Beim abschließenden Fest-Bankett durfte „Pickles“ das komplette Geschirr mit den Überresten abschlecken. Es gab übrigens nicht „Fish and Chips“. Das hätte „ Pickles“ nicht gefressen. Man servierte Gott sei Dank Entrecote. Das sagte ihm mehr zu.
Zurück zu Helmut Haller. Als er 1973 aus Italien zurückkehrte, hätte er aufhören sollen, höherklassigen Fußball zu spielen. Er hatte alles erreicht. „il Ragazzo d’Oro“, der Goldjunge, „il Biondino“, das“ Blondchen“, Fußballer des Jahres in Italien und drei Mal italienischer Meister. Haller war ein exzellenter Techniker, zudem torgefährlich. „Helmut war einer der wenigen Spieler, die ich in meiner Karriere nie richtig in den Griff bekommen habe“, sagte Giovanni Trapattoni einmal, der damals beim AC Mailand spielte und zu den besten Verteidigern seiner Zeit zählte. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland schloss Haller sich dem FC Augsburg an. Finanziell hatte er ausgesorgt. Warum wollte er noch in Deutschland ein paar Geniestreiche auf 90 Minuten verteilen und die Kilometerfresserei dem Nachwuchs überlassen?
Die Deutschen gehen nicht sehr gut um mit ihren Idolen, wenn sie die einstudierten Laufwege verlassen. Aus Wimbledonsiegern werden Wäschekammer-Trottel, aus Weltfußballern „ein Loddar Maddhäus“. Die Italiener sind auch nicht anders. Aus Helmut Haller, der in „La Gazetta dello Sport“ später kein Goldjunge mehr war, wurde ein „Prosciutto rosso“, ein roter Schinken. Hosianna in seiner guten Zeit in Italien. Dann kreuzigten sie ihn. Erst 1979, mit fast 40 Jahren, hörte Helmut Haller endlich auf. Der Ruhm des „Weißbier-Königs von Augsburg“ war nicht der, der ihm gebührte. Er hätte in Würde altern können. 2006 erlitt er einen Herzinfarkt. Der Fußballgott meinte es nicht gut mit „Hemad“, der dann auch noch an Parkinson und Demenz erkrankte. Am 11. Oktober 2012 verstarb er im Kreise seiner Familie. Bei seiner Beerdigung trugen eben diese Familienmitglieder die Trikots seiner früheren Vereine und der Nationalmannschaft. Über 1000 Trauergäste, unter ihnen Franz Beckenbauer und Uwe Seeler, nahmen Abschied von einem der besten deutschen Stürmer aller Zeiten.